Das Grauen und die Wahrheit
„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“ Der griechische Tragödiendichter Aischylos prägte vor zweieinhalb Jahrtausenden diesen Kernsatz, der gerade heute uneingeschränkt seine Gültigkeit beweist. Aischylos wusste wovon er sprach, hatte er doch selbst als athenischer Soldat an der Schlacht bei Marathon gegen die Perser und wenig später an der Seeschlacht von Salamis teilgenommen. Die Horrormeldungen aus dem Nahen Osten überschlagen sich seit zehn Tagen, die Beschreibungen der Gräuel sind auch aus der Distanz nahezu unerträglich. Die Verwirrung über Dichtung und Wahrheit – über Widersprüche und Lügen, über infame Verleumdungen, wohlfeile Propaganda und harte Fakten ist für den durchschnittlichen Medienkonsumenten kaum zu bewältigen.
Doch es gibt verbriefte Tatsachen über die Massaker der Hamas am 7. Oktober an israelischen Zivilisten. Und die sind grauenhaft genug. Es war das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust – und lange davor. Unbestreitbare Tatsache ist auch, dass in einer absurden Konsequenz sofort die Anzahl antijüdischer Übergriffe weltweit senkrecht emporschnellte – allein in Großbritannien haben sich Angriffe und Bedrohungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen innerhalb einer Woche versiebenfacht. Weltweit gingen Hunderttausende auf die Straße – nicht etwa um gegen die von der Hamas verübten Gräueltaten zu demonstrieren, sondern um ihre Solidarität mit „dem palästinensischen Volk“ zu bekunden.
Dann kam die verheerende Explosion im Spital in Gaza am Dienstagabend. Augenblicklich empörte sich die Welt über Israel als angeblichen Täter. Ob das Al-Ahli- Spital von einer Bombe oder von einer vorzeitig krepierenden, auf Israel gezielten Rakete getroffen wurde, wissen wir (noch) nicht und werden es vielleicht auch nie sicher wissen. Tatsache ist: Israel hat nach dem Terrorangriff der Hamas Gaza massiv bombardiert – doch, so weit als möglich, militärische und nicht zivile Ziele anvisiert. Tatsache ist: Hamas hat Tausende Raketen wahllos auf (zivile, nicht militärische) Ziele in Israel abgeschossen und tut dies auch weiterhin. Deren Abschussrampen und Lagerräume befinden sich erwiesenermaßen inmitten ziviler Einrichtungen, unter anderem Schulen, Moscheen und, eben auch Spitäler. Die Terrororganisation Hamas, die den Gazastreifen seit dem israelischen Abzug 2005 uneingeschränkt und ohne jegliche demokratische Legitimation kontrolliert, hat Abermillionen von EU-Unterstützungsgeldern nicht für das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern für Rüstung und Hunderte von Kilometern strategischer Tunnels verwendet, Wasserleitungen zu Raketen gegen zivile Zentren umgebaut und missbraucht die eigene Zivilbevölkerung in zynischem Kalkül als menschliches Schutzschild. Wo liegt die Wahrheit in diesem Krieg?
„Die Horrormeldungen aus dem Nahen Osten überschlagen sich seit zehn Tagen.“
Charles E.
Ritterband
charles.ritterband@vn.at
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).