Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Mittendrin statt nur dabei

Politik / 23.02.2024 • 21:30 Uhr

Das öffentliche Interesse am Prozess sei ihm nicht angenehm, sagte der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz im Schlussplädoyer unmittelbar vor der Urteilsverkündung. Sein ehemaliger Kabinettschef Bernhard Bonelli sieht den Prozess als „das Erniedrigendste, dass ich je erlebt habe“. Verkraftet habe der tiefgläubige Bonelli dies nur, weil er sich auf Wallfahrt nach Mariazell begeben habe, um sich dort mit der Apostelgeschichte zu beschäftigen, schilderte er dem Richter.

Nach dem Höhenflug angelangt am Tiefpunkt. Ohne Frage eine Situation, in der sich niemand wiederfinden möchte. Darum geht es vor Gericht: die Frage der Schuld zu klären. Der Richter fällte gestern ein erstinstanzliches Urteil, das am Freitagabend aus dem Gerichtssaal um die Welt ging. Ehemalige Regierungschefs werden nicht täglich zu bedingten Haftstrafen verurteilt.

An den Prozesstagen setzte Kurz die Verteidigungsstrategie aus dem Untersuchungsausschuss fort. Er habe sich in die Bestellung von Aufsichtsräten der Staatsholding Öbag freilich nicht eingemischt.

Macht und Verantwortung in erheblichem Widerspruch: Sosehr er nun vor Gericht mit alledem nichts zu tun haben wollte, sosehr stand Sebastian Kurz zu Amtszeiten im Mittelpunkt von allem.

Kurz entzopfte die ÖVP, machte sie sich dabei untertan, schnitt alles sternförmig auf sich selbst zu. Er entmachtete Länder und Bünde, sprühte türkisen Glanzlack auf die altmodische Volkspartei. Ein Sog entstand, er selbst würde überzeichnet zur konservativen Lichtgestalt, alles schien möglich. Im Innenleben hieß das: nichts passierte, ohne dass Kurz und sein Team es entschieden. Weder in der ÖVP, in Ministerien, noch der gesamten Republik. Wer Sebastian Kurz näher erlebte, weiß: überschwänglich freundlich, betont interessiert, jedoch misstrauisch, durchaus ein Kontrollfreak. Dem Zufall wurde nichts überlassen, schon gar nicht Macht und Einfluss. Die ÖVP setzte alles auf seine Karte, sonnte sich in seinem Erfolg.

Sebastian Kurz flog so schnell, so hoch, dass er politische Gegner und jegliche Institutionen weit hinter sich ließ. Alles für den glänzenden Moment.
Mit dem (nicht rechtskräftigen) Schuldspruch ändert sich das grundlegend. Die Erzählung, dass alles nur von einer durchgeknallten Staatsanwaltschaft und politischen Gegnern inszeniert wurde, kann keine Minute weitergeführt werden.

Die Kurz’schen Regierungsjahre werden Gerichte auf absehbare Zeit hin beschäftigen: dieser Prozess wird den Instanzenweg gehen und er ist der harmloseste einer ganzen Serie, der Kurz und sein Team sich stellen werden müssen.

Die ÖVP hat es verpasst, sich rechtzeitig und klar genug von Kurz zu distanzieren. Falsche Loyalität und der Wunsch nach allseitiger Gesichtswahrung haben dazu geführt, dass bis heute Drahtzieher der türkisen Überflieger-Politik bei der ÖVP in der Führungsetage sind.

Sebastian Kurz konnte nicht von der Macht lassen. Seine Partei kann bis heute nicht in aller Klarheit von Sebastian Kurz lassen. Die Trennung und Abgrenzung zu den Kurz-Jahren fällt offenbar so schwer, dass es die Volkspartei nicht geschafft hat, dem türkis-populistischen Spuk abzuschwören.

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.