Tradition statt Multikulti?
Wahlkampf ist! Daran besteht seit diesem Wochenende kein Zweifel. Der Spitzenkandidat der ÖVP für die EU-Wahl, Reinhold Lopatka, mit einem Frontalangriff gegen die FPÖ, „die Europa schlecht aussehen lassen möchte, um den Öxit vorzubereiten“, also den EU-Austritt. Der FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky dementiert das nicht wirklich, sondern fordert einen EU-Kommissar für „Remigration“, ein Kampfbegriff der rechtsextremen Identitären.
Blau gegen Schwarz: Das scheint auch für den Nationalrats-Wahlkampf ein dominierendes Thema. Die ÖVP will, durchaus mit Erfolg, die Rolle der Speerspitze gegen die Blauen einnehmen. Und konterkariert mit der Leitkultur-Debatte die eigene Taktik. Zunächst hat man versucht, sich als Partei der neuen Mitte zu profilieren. Legitim. Diese Mitte ist bürgerlich, konservativ bis liberal. Aber dann der Spruch „Tradition statt Multikulti“. Den hat zuletzt die AfD heftig propagiert, die FPÖ ebenfalls. Heißt: Die ÖVP arbeitet mit Slogans der äußersten Rechten. Da gehen die Wähler, wenn, dann vermutlich zum Schmied und nicht zum Schmiedle. Tradition statt Multikulti, illustriert mit einem Video von Männern in der Krachledernen beim Aufstellen eines Maibaums: Damit spricht man allenfalls ein ländlich-konservatives Publikum an. Urbane und liberale Wähler werden sich darin schwer wiederfinden. Österreich als Nachfolgestaat der Habsburger-Monarchie ist so was von multikulti. Die Namen von Promis wie Vranitzky, Busek und Vilimsky (!) oder Prohaska sind genauso sichtbare Zeichen wie die Speisekarte: Kipferl und Kaffee (von den Türken), Gulasch, Strudel, Risotto oder Palatschinken.
Auch Vorarlberg ist seit vielen Jahrzehnten multikulti. Ein Blick ins Bludenzer Telefonbuch: Caldonazzi, Comploj, Concin usw. – meistens die Nachfahren jener Trentiner, ohne die die Arlbergbahn nicht gebaut worden wäre. Genauso wie die Textilindustrie ihre Erfolge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ohne die „Gastarbeiter“ aus der Türkei oder Jugoslawien erzielen konnte. Deren Nachfahren sind längst integriert, nicht alle und die Existenz von Parallel-Gesellschaften ist nicht zu leugnen. Aber ohne ihre Väter gäbe es unseren Wohlstand nicht.
Die ÖVP hat aus der Geschichte nichts gelernt. Ja, der jetzt vielzitierte deutsch-syrische und muslimische (!) Politologe Bassam Tibi hat die „Leitkultur“ vor gut 25 Jahren erfunden. Aber nicht als politischen Kampfbegriff, sondern als einen auf europäischen Werten beruhenden gesellschaftlichen Konsens, als Klammer zwischen Deutschen und Migranten. Seither – und nicht erst jetzt – wird der Begriff laufend strapaziert. In Deutschland versuchte es der damals junge Friedrich Merz im Jahr 2000 erstmals, später Bundestagspräsident Norbert Lammert und 2017 Innenminister de Maiziere (alle CDU). In Österreich 2005 der damalige Nationalratspräsident Andreas Kohl und dann Innenministerin Liese Prokop (beide ÖVP).
All diese Diskussionen sind rasch im Sand verlaufen, wie vermutlich auch die aktuelle. Wie man mit einer simplen Botschaft den Nagel auf den Kopf treffen kann, ohne dabei andere auszugrenzen, hat der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog (CDU) vorexerziert: „Laptop und Lederhose“, um die Verbindung von Moderne und Tradition zu charakterisieren (1998). Herzog ging es um eine Symbiose zwischen heimatlichem Verwurzeltsein und weltoffener Aufgeschlossenheit. Dazu der Satz: „Unsere Kraftquelle ist die Region“. Das hat was und man darf sich auch fragen, woher wir kommen und wofür wir stehen. Man darf und soll Anstand und Respekt einfordern. Das von oben zu verordnen, geht nicht nur nicht, es ist schlichtweg zum Scheitern verurteilt.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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