“Das Implodieren der Großparteien hat viel früher begonnen”

Politik / 10.05.2024 • 17:45 Uhr
ABD0025_20230406 – WIEN – …STERREICH: Der ehemalige “Profil”-Chefredakteur Christian Rainer wŠhrend eines Interviews mit der Austria Presse Agentur (APA) am Freitag, 31. MŠrz 2023, in Wien. – FOTO: APA/ROBERT JAEGER
Rainer fühlt sich Vorarlberg wie sonst nur seiner Heimat verbunden. APA/Jäger

Der ehemalige profil-Chefredakteur Christian Rainer zeichnet ein provokatives Bild der österreichischen Politikszene, die sich trotz tiefgreifender globaler Veränderungen an altbekannte Muster klammert. Und erklärt, warum die Welt früher auch nicht besser war.

Interview: Isabel Russ & Michael Prock

Schwarzach Christian Rainer gehört zu den fundiertesten Beobachtern der österreichischen Politik. 25 Jahre lang war er Chefredakteur und Herausgeber des Nachrichtenmagazins “profil”. Die VN freuen sich, mit Rainer einen der renommiertesten Journalisten Österreichs als neuen Gastkommentator begrüßen zu dürfen. Zum Auftakt spricht er im Interview über damals und heute, über Wissenschaftsfeindlichkeit und Homöopathie, über gesellschaftliche Errungenschaften und sagt, weshalb er sich Vorarlberg besonders verbunden fühlt.

Sie waren ein Vierteljahrhundert Chefredakteur des profil, haben zehn Bundeskanzler erlebt. Wie hat sich die Politik in dieser Zeit verändert?

Christian Rainer: Die politischen Akteure verfügen heute über eine wesentlich größere finanzielle, technische und personelle Ausstattung. Umgekehrt die Medien als kontrollierende Instanz nicht. Zweitens ist die Politik in einem von Social Media durchzogenen, unkontrollierbaren und vergifteten Universum unterwegs. Und drittens gibt es Kräfte, die Österreichs Integration in den Werte- und Rechtestatus der westlichen EU-Staaten zurückschrauben möchten, mit der Gefahr, dass Österreich dorthin abgleitet, wo es war: in ein uniques Alpenterrarium mit einem selbstgeschaffenen Sonderregularium – wie von Heimito von Doderer konstruiert und von Robert Musil erlitten. Gelegentlich befinden wir uns auf der Brücke zwischen Mittel- und Osteuropa schon auf der anderen Seite.

Christian Rainer
Privat

Österreich als Brückenbauer zwischen West und Ost ist ein gerne strapaziertes Bild des diplomatischen Österreichs. Zu Unrecht?

Rainer: Ich habe dieses Bild immer für einen furchtbaren Ausdruck von Sebastian Kurz und anderen gehalten. Wir sollten ja nicht von beiden Seiten eine Brücke bauen, sondern ganz klar auf einer Seite stehen.

Spüren wir diese Einstellung in der europäischen Sicherheitspolitik?

Rainer: In der Sicherheitspolitik leben wir bekanntlich mit der Chimäre einer Neutralität. Spätestens seit dem EU-Beitritt. Dennoch ist aus verständlichen Gründen kein Politiker dazu bereit, eine Diskussion dazu zu entfachen. Damit wird auch eine Sonderposition verfestigt, in der wir historisch nie waren. Wir waren Teil der westlichen Wertegemeinschaft und nicht des sowjetischen Weltreichs. Ich hoffe auf eine junge Generation, die so wie viele andere Österreicherinnen und Österreicher wesentlich internationaler denken, mit einem anderen Weltbild und Wertekompass aufwachsen.

Die ehemaligen Großparteien wählen sie jedenfalls schon jetzt immer weniger. Zumindest sind im Vergleich zu früher SPÖ und ÖVP schwächer geworden. Haben die beiden alten Parteien noch ihre Berechtigung?

Rainer: Sie haben nicht nur eine Berechtigung, es wäre vielmehr für die Gesundheit des Landes wichtig, wenn diese beiden sogenannten Großparteien wieder die großen Parteien wären. Gleichzeitig haben wir eine Situation in Graz und Salzburg, wo eine Partei gewählt wird, die stolz den Namen “kommunistisch” trägt. Das schmerzt nicht nur, sondern zeugt in der freundlichsten Interpretation von einem großen geschichtlichen Unverständnis.

Christian Rainer
Privat

Zeigt das nicht auch, dass sich Wähler von den etablierten Parteien heute nicht mehr verstanden fühlen?

Rainer: Ich sehe keinen großen Unterschied zu früher. Als 1986 Jörg Haider die FPÖ übernahm. Als 1999 die Sozialdemokratie und die Volkspartei katastrophal abschnitten. Oder als sich im Präsidentschaftswahlkampf Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen, Kandidaten zweier ehemaliger Kleinstparteien, gegenüberstanden. Die Implosion der Großparteien hat viel früher begonnen.

Mit dem Unterschied, dass Social Media noch eine ganz andere Art der Diskussion befeuert. Eine Partei namens “Bierpartei” wäre ohne Social Media wohl kaum möglich.

Rainer: Auch Donald Trump wäre nie gewählt worden. Parteien wie die AfD bauen stark darauf, dass Social Media gefährlich wabbert, statt sichtbar erkennbar zu strömen. Es fehlt die kontrollierende Kraft der verlegerischen Medien, egal ob sie liberal oder konservativ sind. Die vierte Macht und Säule ist wichtig für unseren Staat, die Demokratie und die Rechtsordnung. Was passiert, wenn diese Kraft verloren geht, sehen wir in Ungarn und man kann es immer noch in Polen sehen.

Wird sich der Wahlkampf 2024 von anderen Wahlkämpfen groß unterscheiden?

Rainer: Wir haben wieder Kräfte und Parteien, die mit Anstand antreten und solche, die nicht darüber verfügen. So wie stets in der von mir als Chefredakteur überblickbaren Zeitspanne. Haider, Strache, Kickl – es hat sich im repetitiven österreichischen Repertorium wenig geändert. In anderen Ländern, vor allem in Deutschland, erscheint die Aufwallung der Randgebirge hingegen neu. Dort ist die Überraschung nun groß, dass es extrem linke und extrem rechte Parteien gibt. Diese Überraschung erleben wir in Österreich nicht mehr.

Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist auch nicht neu?

Rainer: Antisemitische und antimuslimische, generell xenophobe Stimmungslagen gibt es bei uns schon länger. Und das trifft wohl auch auf das Bestreiten der Wissenschaftlichkeit von Medizin zu. Das hätten wir auch erlebt, wenn Corona vor 30 Jahren ausgebrochen wäre. Der Glauben an Homöopathie und ähnlichen Quatsch ist kein Produkt der jüngsten Jahre. Schade ist nur, dass wir bei vielen Diskussionen, zum Beispiel über Impfungen, hinter die Errungenschaften der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts zurückgefallen sind. Es wird der Tag kommen, an dem die Mehrheit der Bevölkerung an der Wirksamkeit von Antibiotika zweifelt.

Christian Rainer
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Zusammengefasst: Es ist auch nicht schlimmer als früher?

Rainer: Derzeit sind wir in einer furchtbaren Situation, vor allem durch den Krieg in der Ukraine direkt vor unserer Haustür und die globale Bedrohung durch Putins Atomwaffen. Aber Corona hat weniger Spuren hinterlassen als befürchtet. In einer schmalen Altersgruppe der während Corona Pubertierenden ist die verlorene Zeit zu spüren. Aber insgesamt sind die Schäden an der Seele geringer als erwartet. Unter dem Strich meiner Jahrzehnte: Wir können auf viele positive gesellschaftliche Entwicklungen zurückblicken. Kinder werden in der Schule nicht mehr geschlagen, zumindest im öffentlichen Raum nicht misshandelt. Das ist schon eine begrüßenswerte Entwicklung. Wenn jemand schwul oder lesbisch oder transgender ist oder ein uneheliches Kind bekommt, ist das selbst in der ländlichen Idylle längst kein großes Thema mehr. Da nehme ich Kollateralschäden aufgrund aggressiv übertriebener woker Haltungen gerne hin.

Wir haben schon über die Nationalratswahl gesprochen. Wenige Wochen darauf findet in Vorarlberg die Landtagswahl statt. Wird es einen unabhängigen Wahlkampf für die Landtagswahl geben können?

Rainer: Unter Sebastian Kurz war der Einfluss des Bundes ein mächtiger, den schwarzen Landesfürsten viele Prozentpunkte gebender. Das sehe ich in diesem Wahlkampf nicht, auch mögliche Koalitionsverhandlungen werden die Landtagswahl wenig beeinflussen. Üblicherweise neigen sich die Ebenen ja in die andere Richtung, sodass die Bundespolitik das Puppentheater der Länder ist.

Christian Rainer
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Wie nehmen Sie Vorarlberg insgesamt wahr?

Rainer: Ich fühle mich Vorarlberg wie sonst nur meinem Heimatbundesland Oberösterreich verbunden, obwohl ich laut meinen Eltern auf der anderen Seite des Berges, nämlich in St. Anton, gezeugt worden bin (lacht). Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich selbst in den Bergen aufgewachsen bin, gerne Ski fahre, gleichzeitig auch an einem See gelebt habe. Die Kulturlandschaft mit Museen und den Festspielen ist faszinierend, die gibt es sonst nur in Salzburg oder Wien. Grazer und Linzer mögen mir diese Zuneigung nachsehen. Überdies findet man eine Offenheit in Richtung der westlichen Kulturräume, namentlich Schweiz und Deutschland, wie sonst nirgendwo.