Schallenberg: “Neutralität bedeutet nicht gleich Sicherheit”

Der Außenminister plädiert in der Syrienpolitik für einen Kurswechsel. Es sei nicht das ganze Land ein Kriegsgebiet. Schallenberg berichtet den VN zudem von Tal Shoham. Der Österreicher befindet sich noch immer in den Händen der Terrororganisation Hamas.
Wien “Im Ernstfall müssen wir uns selbst verteidigen können”, sagt Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) im VN-Interview zur Rekorderhöhung des Heeresbudgets. Außerdem erklärte er, wie die EU an den multiplen Krisen gewachsen ist und informiert über den aktuellen Stand zur österreichischen Geisel Tal Shoham. Sein Job als Außenminister erfülle ihn zwar, aber Sesselkleber möchte er keiner sein.
Ist Österreichs Modell der Neutralität überholt?
Schallenberg: Ich sehe keine Notwendigkeit, die militärische Neutralität infrage zu stellen. Gerade mit steigenden geopolitischen Spannungen spielt eine aktive Neutralitätspolitik eine Rolle. Neutralität bedeutet aber nicht gleich Sicherheit. Militärische Neutralität bedeutet ausschließlich, dass wir uns keinem Bündnis anschließen und keine fremden Stützpunkte in Österreich haben. Die Regierung hat nach Beginn des russischen Angriffskriegs den richtigen Schluss gezogen und das Budget für Landesverteidigung auf ein Rekordniveau erhöht. Denn im Ernstfall müssen wir uns selbst verteidigen können.
Wie stehen Sie zu einem gemeinsamen Heer der EU?
Das kann maximal der letzte Schritt eines langen Prozesses sein, der noch Lichtjahre entfernt ist. Aber eine vereinheitlichte Kommandostruktur, wo österreichische Soldaten auf Basis eines Befehls von außen in Marsch gesetzt werden, ist mit unserer militärischen Neutralität unvereinbar.
Angesichts der aktuellen Lage in Nahost: War es richtig, die österreichischen Blauhelme aus den Golanhöhen abzuziehen?
Ich war damals (2013, Anm.) Pressesprecher von Außenminister Spindelegger. Das war eine Entscheidung, die niemandem leicht gefallen ist. Grundsätzlich trägt der Einsatz von österreichischen Soldatinnen und Soldaten im Ausland auch zu unserer nationalen Sicherheit bei. Sicherheitspolitik kann nicht erst an der Landesgrenze beginnen, dann ist es oft zu spät.
Zuletzt wurde ein Hamas-Führer im Iran getötet. Wie kann man noch vermitteln?
Israel sind aus israelischer Sicht strategisch wichtige Schläge gelungen, aber es ist damit zu rechnen, dass der Iran und die Hisbollah als verlängerter Arm des Irans, reagieren werden. Ich befürchte, es zu einer weiteren Eskalation kommen wird. Unser Ziel muss sein, dass die Gespräche über einen Waffenstillstand in Gaza fortgeführt werden. Wir müssen eine Situation schaffen, in der wir alle Geiseln herausbekommen. Es gibt auch noch immer eine österreichisch-israelische Geisel, Tal Shoham, ein Vater von zwei Kindern.

Haben Sie Neuigkeiten zu Tal Shoham?
Leider nicht. Ich habe vor Kurzem die Familie wieder getroffen. Das geht einem jedes Mal unter die Haut, wenn man sich vorstellt, was das bedeutet, dass man seit 7. Oktober über den Verbleib des Sohnes, des Ehemannes, des Bruders, des Vaters nichts weiß. Wir bemühen uns auf allen Ebenen, sei es in Katar, Ägypten, der Türkei: Jeden, der Kontakte zur Hamas hat, versuchen wir in diese Richtung zu bewegen, dass sie das ihre dazu beitragen, dass Tal Shoham endlich frei kommt.
Welche Perspektiven gibt es aktuell für die Ukraine?
Ich rechne damit, dass Russland auch im dritten Kriegswinter durch Angriffe auf die zivile Energieinfrastruktur das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer erschweren wird. Der Mut und Verteidigungswille der Ukrainer ist weiterhin beeindruckend. Putin hat es in der Hand, den Krieg morgen zu beenden. Ich sehe nur keine Bereitschaft aus Moskau.
Welche Auswirkungen haben diese geopolitischen Krisenherde auf die Stabilität der EU?
Wir erleben in Europa eine Abfolge von unerwarteten Stresstests. Der Krieg ist nur 500 Kilometer von Wien entfernt, näher als Lech. Das ist in vielerlei Hinsicht ein Schock. Doch welcher Kommentator, welcher Think Tank hätte vor Beginn des russischen Angriffskriegs vorhergesehen, dass die EU geeint bleiben wird, dass sie 14 Sanktionspakete und Milliardenhilfen auf den Weg bringen wird – und zwar mit einstimmigen Beschlüssen, auch mit Ungarn. Europa wächst an der Krise.
In dieser ganzen Lage: Was würde eine US-Präsidentin Kamala Harris bedeuten?
Für mich ist wesentlich: Wir müssen diese strategische Partnerschaft zwischen Österreich und den USA, die wir unter Trump entwickelt und unter Biden weiterentwickelt haben, weiter mit Leben erfüllen. Unabhängig davon, wer im Weißen Haus sein wird. Das ist für uns geostrategisch essenziell.

Magnus Brunner wurde als EU-Kommissar nominiert. Hat die Regierung mit der Nominierung zu lange zugewartet?
Nein, überhaupt nicht. Wir sind völlig in der Zeit. Es ist etwas Positives, dass so viele gute Namen zirkuliert sind. Wir haben seit 1995 wichtige Portfolios gehabt und ich bin sehr zuversichtlich, dass das wieder der Fall sein wird. Magnus Brunner wird das hervorragend machen.
Sie fordern einen Wandel der Syrienpolitik. Steckt dahinter, dass es möglich sein soll, straffällige Asylwerber rascher abzuschieben?
Es ist vielschichtiger als das Migrationsthema. Wir verfolgen als EU seit 2011 dieselbe Politik. Wir haben massive Sanktionen gegen Syrien, aber die Frage ist: Wen treffen sie? Assad beherrscht 70 Prozent des Landes. Teilweise ist dort eine größere wirtschaftliche Stabilität gegeben, als in Nachbarstaaten wie dem Libanon. Wir tun aber weiterhin so, als wäre gesamt Syrien ein Kriegsgebiet. Das schränkt auch unsere Möglichkeiten zur humanitären Hilfe ein.
Was schlagen Sie vor?
Syrien ist der Staat, noch vor Venezuela, wo der größte Prozentsatz der Bevölkerung entweder auf humanitäre Hilfe angewiesen oder geflohen ist. 1,4 Millionen Menschen sind nach Europa gekommen, mehr als 110.000 nach Österreich. Es geht um Stabilität in der Region. Geld allein reicht nicht, wenn Assad fest im Sattel sitzt. Ist es bitter? Ja. Aber ich will eine Politik, in der wir mit Realitäten arbeiten und nicht mit einer Welt, wie wir sie uns wünschen. 14 Millionen Menschen sind geflohen. Das ist doch kein Zustand.
Am 29. September wird gewählt. Wollen Sie Außenminister bleiben?
Wenn die Umstände stimmen und ich wieder gefragt werde, stünde ich zur Verfügung. Politische Ämter sind immer vorübergehend. Man darf nie Sesselkleber werden. Das Einzige, was ich in den vergangenen zehn Jahren mit Sicherheit gelernt habe: Lebensplanung ist etwas für Anfänger.
Laut Umfragen muss die ÖVP mit hohen Verlusten rechnen.
Umfragen sind wie Parfüm: Man soll daran schnuppern, aber nicht davon trinken. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die ÖVP Platz 1 holen wird und der nächste Bundeskanzler wieder Karl Nehammer heißt. Das wäre sehr gut für das Land.
Die FPÖ gewinnt in den Umfragen, zuletzt war sie auf Platz 1 bei der EU-Wahl. Welche Fehler der ÖVP gab es?
Wir sehen dieses Phänomen in allen westlichen Demokratien. Die letzten Jahre waren herausfordernd: wirtschaftlich, politisch, sicherheitspolitisch. Leider hat man manchmal die Tendenz, jenen zuzuhören, die vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Themen liefern. Es muss nur jedem klar sein, auch diese Parteien letztendlich an der Realität gemessen. Und da sieht es oft sehr bitter aus, wenn sie mit der normativen Kraft des Faktischen zu tun haben.