Christian Kern: “Manche verkaufen die Leute wirklich für blöd”

Der einstige Bundeskanzler und SPÖ-Chef sprach mit den VN über Wirtschaftspolitik, staatliche Eingriffe, seine Haltung zur Vier-Tage-Woche und sein heutiges Verhältnis zu Sebastian Kurz.
Schwarzach Der einstige SPÖ-Chef und Ex-Bundeskanzler Christian Kern vermisst in Österreich einen ernsthaften Umgang mit der Wirtschaftspolitik. Von der Forderung der Sozialdemokratie nach einer Vier-Tage-Woche hält er wenig: “Da werden uns andere Nationen überholen und unser Kuchen wird dann keineswegs größer, sondern kleiner werden”, sagt er im VN-Interview. Ebenso erklärt Kern, was er von einer Lohnnebenkostensenkung halten würde, welche staatlichen Eingriffe er sich gewünscht hätte und wie sein Verhältnis zu Sebastian Kurz heute ist.
Sie haben sich mit Vorarlberger Wirtschaftsvertretern und Start-up-Unternehmern und Unternehmerinnen getroffen. Wo drückt der Schuh und wo läuft es derzeit gut?
Kern Wenn man mit den kleineren Unternehmen spricht, die nicht auf den globalen Märkten agieren, sondern die hier in Europa, möglicherweise sogar ausschließlich in der Region aktiv sind, dann sieht man, dass sie im Moment leiden.
Was kann man tun, damit es besser wird?
Kern Wir brauchen wieder einen gesamthaften Plan. Wir sehen, dass im Moment die Investitionen von den Unternehmen nicht da sind, weil sie nicht an den Standort glauben. Wir sehen, dass die Exporte schleppend funktionieren, weil das wirtschaftliche Umfeld schwierig ist. Wir sehen auch, dass die Konsumenten verunsichert sind. Wir brauchen wieder positive politische Initiativen, dass letztendlich wieder Geld in Innovationen fließt. Leider haben wir derzeit ein zu hohes Budgetdefizit und unsere Spielräume sind aufgebraucht.
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Wurde zu viel Geld ausgegeben?
Kern Zu Beginn der Krise war sonnenklar, dass die Energiepreise durch die Decke gehen. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Unternehmen die höheren Erzeugerpreise weitergeben müssen. Dann steigt die Inflation, dann muss die Gewerkschaft darauf reagieren und höhere Löhne durchsetzen, weil das sonst ein Verarmungskonzept wäre. Das Ergebnis sind enorme Ausgaben und eine Verschlechterung unserer Wettbewerbsposition, weil wir nicht nur die hohen Energiekosten haben, sondern auch höhere Löhne im internationalen Vergleich. Der Kardinalfehler war, dass man Milliarden ins System geschüttet und damit noch einmal die Inflation angefeuert hat, anstatt rechtzeitig zu sagen, wir begrenzen die Energiepreise und die Mieten. Da hätte es viel mehr staatliche Eingriffe geben müssen.

Würden solche Eingriffe seitens des Staates den Glauben an den Standort nicht auch wieder verringern?
Kern Nein, an der Stelle ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Nehmen Sie ein kleines KMU, eine Bäckerei zum Beispiel. Die stehen um vier in der Früh auf, haben hohe Energierechnungen, versuchen die Leute zu beschäftigen und ordentliche Löhne zu zahlen. Am Ende, wenn sie in ihre Bücher schauen, ist der Gewinn mit freiem Auge kaum zu erkennen. Dem gegenüber stand zum Beispiel der Verbund, der innerhalb kürzester Zeit um vier Milliarden höhere Gewinne geschrieben hat, obwohl er nicht tüchtiger gewesen ist. Das hat der kleine Bäcker genauso wie alle anderen Haushalte mitgezahlt.

Der Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Knill, erklärte, dass ein Programm der SPÖ noch nie so wirtschaftsfeindlich war wie unter Andreas Babler. Hat er recht?
Kern Ich habe jetzt meine Lebenszeit nicht damit verbracht, alle Parteiprogramme zu studieren. Mein Eindruck ist allerdings, dass wir in diesem Wahlkampf generell wenig Ernsthaftigkeit bei der Wirtschaftspolitik erleben. Das trifft alle Parteien im nahezu selben Ausmaß. Manche schlagen Konzepte vor, bei denen ich mir denke, die verkaufen die Leute wirklich für blöd. Aber wenn Sie mich auf die SPÖ ansprechen, muss ich sagen, ich bin zum Glück ein selbstständiger Mensch und muss nicht alles teilen. Aber es ist nicht so, dass ich eine Alternative in dem Land sehen würde mit vielen brillanteren anderen Vorschlägen.
Die SPÖ fordert eine Vier-Tage-Woche. Was halten Sie davon?
Kern Wir sind in einer Situation, in der wir uns die Frage stellen müssen, wie wir den Wohlstand erhalten können. Daran hängt unglaublich viel. Pensionen, Bezahlung der Lehrer, gute Krankenhäuser, gute Infrastruktur und so weiter. Ich würde mir erwarten, dass man sich zunächst einmal damit beschäftigt und nicht darauf hofft, dass der Kuchen einfach durch göttliche Fügung größer wird. Im Moment tue ich mir auch schwer, viele Sektoren zu finden, in denen eine 4-Tage-Woche oder eine 32-Stunden-Woche funktionieren würde. In meinem aktuellen Geschäft (Anm. Kern ist Geschäftsführer der European Locomotive Leasing Group) haben wir Bahntechnologie in ganz Europa, wir suchen händeringend nach Technikern, die bereit sind, mühselig mitunter im Schichtbetrieb zu arbeiten. Wenn ich mir vorstelle, dass wir hier die Arbeitszeiten reduzieren, dann ist klar, was passiert: Dann müssen wir den Bahnverkehr einschränken. Man kann alles machen, aber man darf dann nicht mehr über den Green Deal reden und darüber, dass wir den Klimawandel bekämpfen wollen, weil die Bahn CO2-mäßig das effizienteste Fortbewegungsmittel ist. Die Dinge hängen zusammen. Wir müssen einen Kassasturz machen und dann überlegen, was müssen wir tun, um unsere Ziele zu erreichen. Da steht die Erhaltung einer nachhaltigen Wirtschaft, auch die Lebensqualität für die Menschen ganz oben. Aber man kann sich leider nicht alles wünschen und hoffen, dass das am Ende irgendwer bezahlen wird. So wird es nicht sein. Da werden uns andere Nationen überholen und unser Kuchen wird dann keineswegs größer, sondern kleiner werden.

Derzeit wäre also eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich nicht machbar?
Kern Im Moment halte ich das für keine aktuelle Idee. Es mag Branchen geben, wo das funktioniert. Für mein Unternehmen kann ich sagen, dass Homeoffice mittlerweile sehr verbreitet ist. Die Menschen haben eine hohe Selbstbestimmung und können entscheiden, wann sie arbeiten. Das halte ich für wirklich effizient: neue Arbeitsformen für die Zukunft zu suchen, die uns helfen, die Produktivität zu erhöhen. Aber weniger Output und weniger Leistung, wie soll das bitte gehen?
Was braucht die Wirtschaft, um wieder in Schwung zu kommen?
Kern Die Investitionen müssen wieder mehr werden. Das Zweite ist unser Steuersystem: Es belohnt Leistung nicht. Wir wissen, dass die Mittelschichten hier viel zu sehr zur Kasse gebeten wird. Da müssen wir uns in Zukunft andere Quellen suchen. Das ist aus meiner Sicht in einer gewissen Weise Erbschaftssteuern, Vermögenssteuern, aber wir müssen auch umweltschädliche Subventionen streichen und unser Steuersystem so gestalten, dass wir jene, die sauber und nachhaltig wirtschaften, belohnen.
Könnte eine Senkung der Lohnnebenkosten die Arbeitgeber entlasten?
Kern Aus den Lohnnebenkosten werden sehr viele soziale Aktivitäten bezahlt. Das geht von den Pensionen bis zum Gesundheitssystem. Wenn man das kürzt, müssen wir es schaffen, das Niveau zu halten. Natürlich brauchen wir vom Bruttoeinkommen deutlich mehr Nettoeinkommen bei den Menschen. Also Lohnnebenkostensenkung ja, aber unter der Bedingung, dass wir die Finanzierung unseres Sozialstaats auch absichern können.
Vor sieben Jahren haben Sie im Plan A einen Mindestlohn von 1500 Euro gefordert. Seither betrug die Inflation 30 Prozent, so läge der Mindestlohn nun bei 1950 Euro. Wäre das angemessen?
Kern Ich bin davon überzeugt, dass das angemessen ist, ja.

Wir stehen kurz vor der Nationalratswahl. Welche Erinnerungen bringt das für Sie zurück?
Kern Es war eine wirklich herausfordernde Zeit, die ich nicht missen möchte in meinem Leben. Ich bin dankbar, dass ich Politik machen durfte, dass ich das Land führen durfte, Bundeskanzler war, auch dass ich SPÖ-Vorsitzender war. Das war eine unglaubliche Bereicherung und ein Privileg.
Bereuen Sie es manchmal, dass Sie die Politik so schnell verlassen haben, dass Sie nicht in der Opposition geblieben sind?
Kern Naja, wahlarithmetisch muss ich sagen, die Wahl 2017 war sehr stark geprägt durch sehr starke Gegner. Wenn Sie an Sebastian Kurz, Peter Pilz oder Matthias Strolz denken. Heute wäre die Konkurrenzlage etwas einfacher. Insofern erwischt man sich manchmal bei dem Gedanken, was wäre wenn. Aber die Wahrheit ist, man muss nach vorne schauen. Ich arbeite gerne in der Wirtschaft.
Haben Sie Sebastian Kurz jemals wieder getroffen? Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm heute?
Kern Also ich würde sagen, es ist ein Nicht-Verhältnis. Ich habe ihn eigentlich seither nicht mehr gesehen. Wie soll ich sagen, ich bin nicht nachtragend. Jetzt geht es darum zu schauen, dass wir in dem Land gemeinsam weiterkommen.
