Jürgen Weiss

Kommentar

Jürgen Weiss

Schwere Geburt

Politik / 08.10.2024 • 07:15 Uhr

Dass die FPÖ ihren Wahlerfolg auch der Zuwanderung früherer Türkis-Wähler zu verdanken hat, liegt auf der Hand. Das von Sebastian Kurz vor fünf Jahren entfachte Strohfeuer war inzwischen erloschen. Besonders stark kam der FPÖ zugute, dass sie offenkundig viele bisherige Nichtwähler motivieren konnte. Die Wahlbeteiligung stieg beispielsweise in Vorarlberg um 15 Prozentpunkte, liegt mit 69 % aber immer noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Wenn diese Mobilisierungskraft der FPÖ anhalten sollte und über jener der anderen Parteien liegt, wird es am nächsten Sonntag tatsächlich knapp. Neben der FPÖ rechnete sich auch der Landesvorsitzende der SPÖ mit einem leichten Stimmenzuwachs zu den (relativen) Gewinnern, obwohl er in seiner Heimatgemeinde Bludenz mit minus 4 Prozent einen überdurchschnittlich hohen Verlust eingefahren hatte.

„Eine bestimmte Form der Regierungszusammenarbeit ist kein Selbstzweck.“

Wie immer die Regierungsbildung auch abgeschlossen wird (vermutlich erst nach der steirischen Landtagswahl am 24. November), wäre es eine Überraschung, wenn es in schlechter österreichischer Tradition nicht wieder zu kräftigen Kompetenzverschiebungen zwischen den Ministerien käme. Das ist eine in der Schweiz und in Deutschland unbekannte Unsitte politischer Machtspiele. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Österreich mit 12 Regierungsmitgliedern eine vergleichsweise große Bundesregierung hat. Die nur geringfügig kleinere Schweiz kommt mit 7 Regierungsmitgliedern aus, das neunmal so große Deutschland mit 16.

Der bedingungslose Anspruch des Wahlsiegers FPÖ auf den Bundeskanzler erweckt den Eindruck, man lebe in einem Land mit Mehrheitswahlrecht. In Großbritannien ist es gar keine Frage, dass die stärkste Partei den Premierminister und alle Regierungsmitglieder stellt, und das wie zuletzt bereits am Tag nach der Wahl. In den meisten anderen Ländern werden aber wie in Österreich keine Regierungen gewählt, sondern mit Verhältniswahlrecht die Gewichte verteilt, mit der die einzelnen Parteien für die Regierungsbildung und dann später für die Gesetzgebung die notwendigen Mehrheiten bilden können. Der frühere SPÖ-Vizekanzler Hannes Androsch weist zu Recht darauf hin, dass man in Österreich das Pferd von hinten aufzäume. Tatsächlich wäre es wichtig, zunächst die zu lösenden Probleme und die dafür zur Diskussion stehenden Vorschläge zu identifizieren. Erst damit kann man Klarheit schaffen, in welcher der notwendigen Koalitionen die meisten Probleme am besten gelöst werden können.

Eine bestimmte Form der Regierungszusammenarbeit ist kein Selbstzweck, sondern soll die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler und der von ihnen gewählten Parteien abbilden. Was das dann für die nächste Wahl bedeuten kann, steht auf einem anderen Blatt.

Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates (ÖVP) zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.