Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Zwischen Pest und Cholera

Politik / 13.01.2025 • 06:55 Uhr

Der 180-Grad-Schwenk der ÖVP zur FPÖ hat das Zeug in sich die Partei zu spalten. Das wird Kickl nur recht sein. Spätestens seit er die Volkspartei in seiner Dienstag-Pressekonferenz gedemütigt hat, dämmert es immer mehr VP-Sympathisanten, auf was sie sich da eingelassen haben. Die Kickl-Dämmerung betrifft weniger die Parteispitze und schon gar nicht die Wirtschafts-Vertreter, sondern viele Parteimitglieder und ÖVP-Polit-Pensionisten. Wenn ein Urgestein wie Franz Fischler die Mitgliedschaft aufkündigen will, spricht das Bände. Unter den Tausenden, die am Ballhausplatz gegen die FP-VP-Koalition demonstriert haben, sind sicher nicht wenige, die am 29. September die ÖVP nur gewählt haben, um Kickl zu verhindern. Die NZZ schrieb: „Die Verzweiflung, mit der sich ein Teil der Partei an die letzten Zipfel der Macht klammert, schadet nicht nur ihrer Glaubwürdigkeit. Sie bestätigt auch all jene, die sich angewidert von der Politik abgewendet haben“.

Von der verlorenen Glaubwürdigkeit spricht sogar der neue ÖVP-Chef Christian Stocker. Er räumt jetzt Fehler ein, in der Bundesregierung und bei den Koalitionsverhandlungen. Wie will er die Glaubwürdigkeit und seine „verlorene Reputation“ (Eigendefinition) zurückgewinnen? Sicher nicht dadurch, dass er noch weitere Grundsätze aufgibt. Das „nicht mit Kickl“ ist ja Makulatur. FPÖ und ÖVP nehmen sich als erstes das Budget vor. Gut so, denn das war ja ein Kardinalfehler der Verhandler zur Dreierkoalition, dass man sich um die großen Brocken zunächst gedrückt hat. Danach gibt es Stolpersteine, bei denen ich mir nicht sicher bin, dass es einen Konsens gibt.

Stocker muss der ÖVP ein klares Profil als Europa- und Reformpartei verschaffen, mit deutlicher Abgrenzung zur FPÖ. Ein Kanzler Kickl kann (siehe die Parole im Wahlkampf „EU-Wahnsinn stoppen“) gemeinsam mit dem von ihm verehrten Viktor Orbán viel blockieren. Schafft es die ÖVP, die FPÖ von ihrem Anti-Europa-Kurs abzubringen oder schaut sie zu, wie Österreichs EU-Politik verwässert wird? Die EU will demnächst weitere Russland-Sanktionen beschließen. Schon die bisherigen hat Kickl abgelehnt. Die ÖVP befürwortet sie vehement. Wird Kickl, in Fortsetzung seiner Putin-Hörigkeit einknicken oder gibt die ÖVP klein bei? Die ÖVP hat Kickl bisher als Sicherheitsrisiko bezeichnet. Mit Grund: Kickl hat als Innenminister im Amt für Verfassungsschutz und Terrorismus-Bekämpfung eine rechtswidrige Razzia veranlasst. Die Vertrauenskrise mit ausländischen Nachrichtendiensten dauert heute noch an.  Stocker hält den Vorwurf des Sicherheitsrisikos aufrecht. Demnach dürfte die ÖVP der FPÖ nicht das Innenministerium überlassen, ohne wieder umzufallen.  Beispiel Sky Shield: Die FPÖ lehnt das mit anderen Staaten, etwa mit der Schweiz, geplante Luftabwehrprojekt strikt ab. Für die ÖVP ist es angesichts der russischen Aggressions-Politik eine Notwendigkeit, um sich im Ernstfall selbst verteidigen zu können. Kommt die Gleichschaltung der Medien, wie sie die FPÖ plant, oder eine Gängelung der Justiz? Die ÖVP ist gefordert, klare Kante zu zeigen.

Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube daran, dass es in der ÖVP noch Leute gibt, die sich ihr Selbstwertgefühl bewahrt haben, und die sich am Morgen noch in den Spiegel schauen können. Wenn schon nicht im Wirtschaftsbund, dann vielleicht bei den Landeshauptleuten? Aktuell hat die ÖVP die Wahl zwischen Pest und Cholera. Koaliert sie mit der FPÖ, ist die Ehre beim Teufel und verliert sie einen Teil ihrer Wähler. Lässt sie die Gespräche platzen, bedeutet das Machtverlust für die machtverwöhnte Partei. Was ist besser?

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.