Kanzler wider Erwarten: Christian Stocker steht vor Karrierehöhepunkt

Der 64-jährige Anwalt und erfahrene Politiker aus Wiener Neustadt soll die ÖVP in ruhigere Zeiten führen.
Wien Statt des Schritts zurück in die Kommunalpolitik wird es aller Voraussicht nach der Schritt ins Bundeskanzleramt. Dass dem 64-jährigen ÖVP-Politiker Christian Stocker dieser Karriereschritt gelingt, kam auch für viele Mitstreiter überraschend. Und auch wieder nicht. Nach dem Abgang von Karl Nehammer schien Stockers Funktion als ÖVP-Generalsekretär ein baldiges Ablaufdatum zu haben. Doch eine klare Nummer eins in der Volkspartei fehlte. So kam Stocker zum Zug.
Nie in der ersten Reihe
In seiner Heimat Wiener Neustadt war Stocker seit 2000 Vizebürgermeister, bei Amtsantritt war die Stadt, fast so groß wie Dornbirn, noch in roter Hand. Als die ÖVP 2015 die Macht übernahm, kam sein Parteikollege Klaus Schneeberger zum Zug und wurde Bürgermeister. Oder: Stocker ließ ihm den Vortritt. Denn von Parteikollegen wird er als „beratende Anlaufstelle“ beschrieben, in dieser Rolle schien sich Stocker bislang wohlzufühlen. So charakterisiert ihn auch sein Nationalrats-Sitznachbar Norbert Sieber im VN-Gespräch. Sieber beschreibt ihn als sehr belesen und stets tief in der Materie. “Wenn man ihn von etwas überzeugen will, muss man gut vorbereitet sein.”
Als weitere Attribute nennt Sieber die Schlagfertigkeit, das Werterüstzeug – und seine Herzlichkeit. Anders als sein Image als “Mann fürs Grobe” erahnen lässt, sucht Stocker die Nähe zur Bevölkerung. In seiner Heimatgemeinde hat seine Sommeraktion “Ein Fassl fürs Gassl” seit mehr als 20 Jahren Tradition: Bei einem Freibier kommt man schneller ins Gespräch.

Zugute käme Stocker seine Erfahrung als Anwalt – den Standpunkt seiner Partei kann er mit viel Nachdruck verteidigen – und die Machtbasis, die seine Herkunft aus der niederösterreichischen ÖVP garantiert. Seit Juni 2019 war er Abgeordneter im Nationalrat, im September 2022 übernahm er die Funktion des Generalsekretärs. In den vergangenen Jahren fiel er zudem als geschäftsordnungsaffiner Abgeordneter auf, etwa im Korruption-U-Ausschuss.
Steckbrief Christian Stocker
geboren am 20. März 1960 in Wiener Neustadt
Jus-Studium in Wien, Anwaltskanzlei in der Heimatstadt
Ab 2000 Stadtparteiobmann und Vizebürgermeister in Wiener Neustadt
Seit 2019 Abgeordneter zum Nationalrat
Ab Herbst 2022 Generalsekretär der ÖVP
Seit Anfang Jänner geschäftsführender Parteichef

Kurswechsel bezüglich Kickl
Auffallend war sein Kurswechsel bezüglich FPÖ-Chef Herbert Kickl. “Herbert Kickl will unsere Republik umbauen – das ist kein guter Plan für Österreich oder die Menschen in unserem Land”, sagte Stocker etwa im November 2024. Ab Anfang Jänner führte er als ÖVP-Chef trotzdem das einmonatige Verhandlungsintermezzo mit der FPÖ an, das letztlich scheiterte. Dass ihm nach seiner 180-Grad-Drehung viele die Glaubwürdigkeit absprechen, thematisierte er selbst: “Es geht jetzt nicht um mich, das Land braucht dringend eine Regierung.” Kickl sprach Stocker nach Abbruch der Verhandlungen auf seine Art Wertschätzung aus: „Ich habe ihn bei unseren Gesprächen von einer ganz anderen Seite kennengelernt, als das bisher auf der offenen politischen Bühne der Fall gewesen ist.“
Stocker selbst betonte wiederholt, dass er “nichts mehr werden muss” und gab sich als Verwalter der ÖVP. “Typisch Anwalt”, heißt es aus grünen Kreisen zu den VN: Es gebe einen Auftrag und den füllt man pflichtbewusst aus. Allerdings wird Stocker auch nachgesagt, dass er zuletzt durchaus Lust an der Macht gefunden habe.

Fischer und Tenorsaxofonist
Privat ist bekannt, dass Stocker gerne fischt und Tenorsaxofon spielt. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter und eines Sohns, der in die Anwaltskanzlei bereits eingestiegen ist. Die ÖVP liegt Stocker gewissermaßen in der DNA: Bereits sein Vater Franz Stocker war christlich-sozialer Gewerkschafter und Nationalratsabgeordneter. Wie lange Stocker im Amt bleiben könnte, ist unklar. Zuletzt wurde wieder über ein Comeback von Sebastian Kurz spekuliert, der bereits wiederholt abgewinkt hat. Am 29. März ist Bundesparteitag der ÖVP in Stockers Heimatgemeinde, dort soll er offiziell zum neuen ÖVP-Vorsitzenden gewählt werden. Vielleicht schon als Bundeskanzler.