Kommentar: Über die Feigheit
Politiker (m/w) arbeiten immer mehr mit griffigen Schlagzeilen statt Inhalten. Seit Sonntag sollte der Slogan lauten: Jetzt geht’s los. Üblicherweise schielen Parteien zunächst auf den nächsten Wahltermin. Nach der Wien-Wahl fällt für zweieinhalb Jahre diese Ausrede weg. Es gibt ein Zeitfenster bis Herbst 2027, wenn in Tirol und Oberösterreich Landtage gewählt werden. Feuer frei also für jene unpopulären Entscheidungen, um das unter Türkis-Grün völlig aus dem Ruder gelaufene Budget zu sanieren. Wir warten also auf jene Leuchttürme, die die schwarz-rot-pinken Verhandler in der ersten Runde unter Nehammer angekündigt haben, und von denen noch nicht einmal ein kleines Lichtlein auszumachen ist. Beim größten Ausgabenbrocken, den Pensionen: Endlich eine mutige Entscheidung für die Erhöhung des Pensionsalters oder Zuwächse unter der Inflationsrate zumindest für privilegierte Gruppen wie den öffentlichen Dienst? Klimaticket zu realistischen Preisen? Durchforstung von Förderungen, damit diese nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip für jene vergeben werden, die sie gar nicht benötigen? Ein Abbau der aufgeblähten Bürokratie, der diesen Namen auch verdient? Beseitigung von durch den Föderalismus verursachten Doppelgleisigkeiten?
Feigheit in der Politik hat viele Spielarten. Feigheit vor der Wählerschaft: Man vermeidet notwendige, aber unpopuläre Maßnahmen, verschleppt lieber Probleme, verzögert Reformen und halst die Tilgung der Schulden den nächsten Generationen auf. Feigheit gegenüber dem Populismus: Demokratische Parteien übernehmen Narrative oder Forderungen von populistischen Gruppen, um Wähler zurückzugewinnen, anstatt dem klar entgegenzutreten. Als Konsequenz werden demokratische Werte verwässert. Es gibt die Feigheit in der internationalen Politik. Staaten verurteilen Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen nicht, wenn strategische oder wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. Siehe Trumps Ukraine-Politik oder das Schweigen Europas zu den Brachial-Methoden von Erdogan in der Türkei gegenüber der Opposition. Es gibt die Feigheit im Umgang mit dem Koalitionspartner. Kompromiss ersetzt Haltung. Nicht auszudenken, zu welchen Zugeständnissen an die FPÖ die ÖVP bereit gewesen wäre, wenn Kickl die Koalitionsgespräche nicht verbockt hätte!
„Feigheit“: Unter diesem Titel hat Adelheid Kastner, renommierte Gerichtspsychiaterin aus Linz, gerade ein Buch veröffentlicht (Verlag ecoWin, 120 Seiten). Sie definiert Feigheit als das bewusste Vermeiden von Handlungen, die moralisch geboten wären. Menschen handeln aus Feigheit, um Konflikte zu umgehen oder ein bequemes Leben zu führen. In der Politik kritisiert Kastner das mangelnde Rückgrat. Oder dass Politiker aus Angst vor Machtverlust oder öffentlicher Kritik Maßnahmen unterlassen. Dies fördere das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte, weil klare Positionierungen und mutige Entscheidungen ausbleiben. Man denke nur an die Sehnsucht nach dem „starken Mann“, die den Trumps, Orbáns und Kickls Zulauf beschert. Ein besonders erschütterndes Beispiel für Feigheit – abseits der Politik – sieht Kastner im Fall von Gisèle Pelicot. Von den Vergewaltigungen wussten viele. Sie haben aus Angst oder Bequemlichkeit geschwiegen oder Verbrechen begangen oder geduldet, ohne Verantwortung zu übernehmen. Adelheid Kastner will einen Denkanstoß geben, über das eigene Verhalten nachzudenken. Für mehr Zivilcourage und dafür, nicht immer den bequemsten Weg zu gehen. Sondern Verantwortung zu übernehmen und moralisch gebotene Handlungen nicht aus Feigheit zu unterlassen.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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