Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Wie gut kennen Sie Ihr eigenes Kind?

Politik / 16.06.2025 • 09:03 Uhr

Der Amoklauf des 21-Jährigen, der am vergangenen Dienstag am BORG in der Grazer Dreierschützengasse zehn Menschen ermordet und elf weitere teilweise schwer verletzt hat, wird Österreich lange beschäftigen. Ob es die Aufarbeitung der Opfer und ihres Umfelds, die Ermittlungsarbeit der Behörden oder die politischen Folgen, etwa zum Thema Waffengesetz, betrifft. Das Grazer Schulmassaker ist eine Zäsur, die klar aufzeigt, dass Österreich nicht das wohltemperierte kleine Land ist, in dem man sich vor der Realität der Welt zurückziehen und darauf hoffen kann, dass sich gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen möglichst nicht so offenbaren wie anderswo.

Auch wenn die Ermittlungsbehörden noch mitten in der Erforschung der Geschichte und des Motivs des Amokschützen sind, kann man schon erkennen, dass dieser Fall brennende gesellschaftliche Fragen anspricht, die auch in der derzeit international diskutierten britischen Netflix-Serie „Adolescence“ verhandelt werden. Wie werden heranwachsende Burschen zu Gewalttätern? Die Serie erzählt die fiktive Geschichte des 13-jährigen Jamie Miller, der von der Liverpooler Polizei wegen Mordverdachts festgenommen wird. Und es stellt sich nach kurzer Zeit heraus: Jamie war es, er hat seine Mitschülerin Katie erstochen.

Gefährliche Vereinsamung

Warum hat der schüchterne Bursche so etwas Schreckliches getan? Die Erkundung führt zu einer Entwicklung, die heute wohl viele Heranwachsende betreffen kann. Jamie und seine Freunde sind Außenseiter, sie sind nicht beliebt, sie gehören nicht dazu. Ein Zustand, der sich durch die Social-Media-Plattformen auf ihr gesamtes Leben ausweitet. Während der Ermittlungen stellen sich diese grundlegenden Fragen: Wie gut kennen Eltern ihre eigenen Kinder? Und wie viel Einblick haben Erwachsene in die Lebenswelt der Jugendlichen, die heute mit ganz anderen Problemen und Einflüssen konfrontiert sind?

Bei der Diskussion rund um jugendliche Gewalttäter sollte man mehr auf die Verbreitung von gefährlichen Männlichkeitsbildern und Gewalt-Ideologien achten. Im Netz hat sich etwa eine Community gebildet, die Amokläufer an Schulen verherrlicht. Extremismus-Experten sprechen von „unideologischem Terror“, also Gewalt zum Zweck der Gewalt. Aufklärerische Serien wie „Adolescence“ in Schulen zu zeigen, kann nur ein Schritt sein. Die Erwachsenen müssen bereit sein, den Jugendlichen mit ihren Sorgen aufmerksam zuzuhören und ihre Lebensrealitäten anzuerkennen. Lehrende müssen die Ressourcen haben, gemeinsam mit Sozialarbeiterinnen und Psychologen echte Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen – um im Ernstfall erkennen zu können, dass sich ein junger Mensch verliert.

Wie viel Einblick haben Erwachsene in die Lebenswelt der Jugendlichen, die heute mit ganz anderen Problemen konfrontiert sind?

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.