Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Im Emotionssturm, den alle befeuern

Politik / HEUTE • 13:26 Uhr

Charlie Kirk ist tot und rund um seinen Tod entflammt so etwas wie ein heiliger Krieg zwischen den politischen Lagern, der derzeit vor allem auf den Social-Media-Plattformen ausgetragen wird. Kirk gehörte als Aktivist, Verbündeter von US-Präsident Donald Trump und einflussreicher Podcaster dem rechtskonservativen Spektrum in den USA an; in Europa würde man den 31-Jährigen Evangelikalen, der bei der Verbreitung seiner Botschaften selbst vor Verschwörungserzählungen nicht zurückschreckte, als politisch rechtsaußen verorten. Kirk hatte eine große Anhängerschaft, die ihn jetzt zum Märtyrer erklärt – und eine Schar an Gegnerinnen und Gegnern im linken Spektrum, die ihn als gefährlichen Rechtsextremen betrachtet.

Der mutmaßliche Mörder Kirks, ein 22-jähriger Mann aus einer republikanischen Familie in Utah, soll laut Hinweisen auf seinen unbenutzten Patronenhülsen tief in der Online- und Gamingkultur verwurzelt sein und laut Medienberichten aus einer Mormonen-Familie stammen. Sein Motiv war bis Redaktionsschluss noch unklar. Der Anschlag auf Kirk ist ein weltpolitisches Ereignis, in dem sich wieder offenbart, dass es im Fall von Gewalttaten auch um ein Maßhalten in der öffentlichen Debatte gehen sollte.

Spiel mit Emotionen

Maßhalten ist in Zeiten der Emotionalisierung eine vergessene Tugend, wobei man die dafür erforderliche Gelassenheit natürlich nicht mit Gleichgültigkeit gleichsetzen kann. Das Leid und die Probleme der Welt können uns nicht egal sein. Doch Gelassenheit wäre bei allem Ernstnehmen der Lage hilfreich, um mit schwierigen Situationen umgehen und Lösungen finden zu können. Bei jedem Reizthema auszurasten und andere anzuklagen, wie es viele täglich auf Social Media tun, wird uns als Gemeinschaft nirgendwohin bringen. Diese Emotionsstürme nutzen in erster Linie jenen, die gerne mit Gefühlen spielen, um Aufmerksamkeit für sich, ihre Meinung, ihr Geschäftsmodell zu bekommen.

Und auch Terroristen setzen auf kollektive Emotionen. Rechtsextreme Attentäter verfolgen bei ihrem Tun denselben Plan wie Islamisten, das analysiert die renommierte österreichische Extremismus-Forscherin Julia Ebner in ihren Büchern. Sie schüren Angst und Hass, wollen Racheakte ihrer Opfer provozieren und einen Bürgerkrieg entfachen – mit einem Ziel: Eine neue Ordnung zu schaffen. Daher ist es wichtig, dass es nach einem Anschlag nicht zu Überreaktionen von Politik und Bevölkerung kommt, noch mehr Emotionalisierung wird uns sicher nicht retten. Sondern nur kühle Analyse und das gemeinsame Auftreten gegen Hass all jener, die an die Vorzüge der demokratischen Gesellschaft glauben.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.