Kommentar: Die Grenzen der Toleranz
Sachschäden in Millionenhöhe, 18 verletzte Polizisten, Bahn-Unterbrechung durch blockierte Gleise: Das Resultat einer unbewilligten Pro-Palästina-Demonstration soeben in Bern. Die Protestwelle gegen Israel hat die Schweiz erreicht. Wochenlang hatten linksextreme und propalästinensische Gruppen zur Demo aufgerufen, mit Slogans wie „Glory to the 7 Oct“, also Verehrung für das Massaker an jenem Tag, an dem 1200 jüdische Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet worden sind. Nun hat die Schweiz nicht nur das Problem der Demonstrationen an sich, sondern auch eine vehemente Diskussion, weil namentlich die Sozialdemokratische Partei (SP) und die Grünen sich wie viele Linke darum herumdrücken, die Gewalt zu verurteilen. „Schande von Bern“ und „dröhnendes Schweigen“ nennt die NZZ diese Haltung. Und: „Antisemtische Aufrufe, Juden zu töten, scheinen zumindest kein Problem zu sein“. Exzessiv ausgelebte Gewalt werde schöngeredet und in Teilen sogar befürwortet. Die Schweiz ist kein Einzelfall. 900 Festnahmen bei einer Demo im September in London, gewalttätige Proteste von Paris bis Amsterdam. Ganz zu schweigen von den Protesten an über 500 Schulen und Universitäten seit zwei Jahren in den USA, mit Besetzungen von Uni-Büros, mit Dutzenden Festnahmen.
Wie wird von den Demonstranten auf Kritik reagiert? Oft mit Wehleidigkeit und fehlender Selbstkritik. Vor allem wird der Gedanke der Toleranz bemüht. Motto: „Echte Toleranz heißt, unbequeme Wahrheiten zu ertragen.“ Zum Argument, wir müssten gewalttätige Aktionen tolerieren, gibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann bemerkenswerte Antworten. Im soeben erschienenen Buch „Was nun?“ (Paul Zsolnay Verlag) liefert er eine Sammlung von Essays, die sich mit Krisenfeldern beschäftigen: Demokratie, Moral, Wissenschaft. Aber auch mit der Krise der Toleranz. Er fragt, auch Bezug nehmend auf die signifikante Zunahme von islamistisch motivierten Terroranschlägen mit zahlreichen Toten: „Wie weit muss eigentlich unsere Toleranz gegenüber Menschen gehen, die eine Gesellschaft, zu deren Fundamenten die Religionsfreiheit und der damit verbundene Gedanke eben der Toleranz gehören, vehement ablehnen und dabei vor Gewalt nicht zurückschrecken?“ Liessmann verweist darauf, dass viele Denker, Forscher und Künstler die europäischen Werte vor allem durch Rechtspopulisten bedroht sehen, gegen die man geistige Brandmauern errichte. Die Angriffswellen des radikalisierten Islam blieben ein blinder Fleck. Die realen Gefahren der Migrationswellen wolle man lieber nicht so genau beobachten.
Zu den Problemfeldern der Migration nimmt sich Liessmann kein Blatt vor den Mund. Er zitiert in den wieder hochaktuellen Diskussionen um ein Kopftuchverbot oder das Kreuz in der Schule den 2021 verstorbenen österreichischen Philosophen Rudolf Burger. Dieser war gegen die Forderung, dass der Staat allen Religionen gleich neutral gegenüberstehen müsse und religiöse Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen habe, denn: „Das Christentum bildet bis heute den Boden, auf dem sich unser Denken abspielt“. Das Kopftuch sei mit christlichen Symbolen, etwa dem Kreuz in der Schule, das nicht wirklich auffalle, nicht vergleichbar. Das Kopftuch hingegen sei eine „aufdringliche Belästigung“ und „eine Form der Raumbesetzung durch eine feindlich gesinnte Ideologie und ein politischer Demonstrationsakt“. Liessmann: „Die Toleranz steht auf der Liste der europäischen Werte ganz oben, aber die eigentliche Herausforderung der Toleranz besteht nicht darin, sich zu ihr zu bekennen, sondern darin, ihre Grenzen zu benennen“. Diese Grenzen müsse man zur Diskussion zu stellen, selbst wenn man sich damit quer zum Zeitgeist stelle.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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