Kommentar: 70 Jahre Selbstbetrug
Morgen, Sonntag, feiern wir das runde Datum, am Montag wachen wir wieder als Trittbrettfahrer auf. Die „immerwährende Neutralität“ war nie Heiligenschein, sie war ein Rabattcode. Man zeigte sie an der Kassa der Geschichte vor und bekam Sicherheitsgefühl zum Nulltarif – solange andere zahlten. Dass das Gesetz von 1955 NATO-Beitritt und fremde Stützpunkte untersagt, steht schwarz auf weiß.
Die Wirklichkeit hat sich der Legende entzogen. Die EU ist kein Ponyhof, sondern ein Sicherheitsverbund mit einer Beistandsklausel (Art. 42(7) EUV). Im Ernstfall „leisten“ die Partner Hilfe – aber was genau und wie weit, bleibt wolkig. Das ist die Neutralitätslücke: Wir zählen mit, zahlen nicht – und erwarten doch im Zweifel Schutz von jenen, denen wir unsererseits keinen garantieren.
Gleichzeitig hat Österreich die strenge Lehre zur variablen Praxis umgebaut: PESCO-Projekte? Mitmachen. EU-Missionen? Mitmachen. Partnerschaft für den Frieden? Mitmachen. Alles gut und richtig – aber eben eine stille Entkernung des Dogmas. Der Katechismus bleibt, die Liturgie ist NATO-kompatibel.
Die Heiligsprechung lebt von zwei Mythen. Erster Mythos: „Neutralität schützt.“ Die Geschichte kennt Gegenbeispiele – Belgien, die Niederlande, Dänemark, Norwegen –, allesamt neutral, allesamt überfallen. Neutralität ist kein Stahlhelm; sie ist ein Regenschirm im Artilleriefeuer.
Zweiter Mythos: „Die Leute wollen keinen Krieg.“ Stimmt – und ist der vernünftigste Satz dieser Republik. Die Generation der Enkel will ihre Kinder nicht ins Feuer schicken; die Großeltern wollten ihre Söhne nicht mehr verlieren. Aber aus „Wir wollen keinen Krieg“ folgt nicht „Der Krieg will uns nicht“. Er steht vor der Tür, ob wir uns die Augen zuhalten oder nicht.
Was die Politik dazu sagt? Öffentlich: Hosianna, ewige Neutralität. Privat: ganz anders. Höchstrangige Vertreter aller Parlamentsparteien – ja, aller, mit einer Ausnahme – haben mir über die Jahre gesagt, die Neutralität sei obsolet, ein NATO-Beitritt sinnvoll. Die Ausnahme heißt FPÖ. Pikant: Ausgerechnet jene Partei war in den 1990ern der lauteste Trommler für einen Beitritt; Haider und Kollegen brachten Anträge ins Parlament. Heute gibt sie die Sakristei der Neutralen.
Diese Bundesregierung? Kein Leuchtturm, eher das Teelicht im Herbstwind. Die Außenministerin – NEOS, mit so gut wie allen Nationalratsabgeordneten offen oder verdruckst gegen die Neutralität und für die Allianz – riskiert politisch nichts. Man hört Sätze, man sieht keine Schritte. Mutlosigkeit als Staatsräson. Leuchtturmprojekte? Fehlanzeige.
Und die Gesellschaft? Sie hält an einer Gründungslegende fest wie an einer abgetragenen Lederjacke: riecht nach Vergangenheit, schützt aber schlecht. „Wir sind umgeben von Freunden“, heißt es. Als ob Freundschaft Panzer stoppt. Der Kontinent rüstet um, Finnland und Schweden sind längst über den Schatten gesprungen; wir spielen weiter Schattentheater. Mit einer Neutralität, die keineswegs gewollte Identität war, sondern ein erpresstes Zugeständnis an die Sowjetunion – also auch an jenes Russland, das gerade die Ukraine überfallen hat und deren Putin-Buddy Medwedew und jetzt droht.
Bleibt die Frage: Wer hilft Österreich, wenn es ernst wird? Juristisch gibt es die EU-Klausel. Politisch gibt es Fragezeichen. Moralisch gibt es die Erinnerung, dass Neutralität nie Neutralisierung garantierte. Realistisch bleiben zwei Wege: Ehrlich werden – und Bündnisfähigkeit wollen – oder weiter auf den Rabattcode hoffen. Der Kassenschluss kommt. Bezahlen werden wir selbst – mit Sicherheit, nicht mit Worten.
Christian Rainer ist Journalist und Medienmanager. Er war 25 Jahre lang Chefredakteur und Herausgeber des Nachrichtenmagazins profil.
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