Der Rektor der MedUni Wien über das Gesundheitssystem: “Ich vermisse die Ambition, tatsächlich etwas zu ändern”

Für Markus Müller führt kein Weg an Spitalsschließungen vorbei. Die Struktur in Österreichs Gesundheitssystem sei überholt.
Schwarzach Vorarlbergs Spitalslandschaft befindet sich im Umbruch. Abteilungen werden zusammengelegt und verschoben. Damit folgt die Landesregierung dem internationalen Trend, wie Markus Müller erklärt. Er ist Mediziner, seit zehn Jahren Rektor der MedUni Wien und Vizepräsident der österreichischen Universitätenkonferenz. Im VN-Interview ärgert er sich über fehlende Reformbereitschaft in der Gesundheitslandschaft und erläutert, warum nicht von einem Ärztemangel gesprochen werden kann.
Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner rechnete vor, dass man aus Altach in höchstens 30 Minuten sieben Spitäler erreicht. Diese Struktur soll erhalten werden. Ist das eine gute Nachricht?
Müller Ich vergleiche das gerne mit Dänemark. Dort wurden die Kompetenzen gebündelt, es gibt nur noch 25 Spitäler. In Österreich kommen wir auf 270 Krankenanstalten. Das bringt subkritische Strukturen, weil die Fallzahlen an kleineren Standorten häufig zu gering sind. Dazu müssen die Spitäler mit einer kompletten Dienstmannschaft bespielt werden, was das System teuer macht. Auch in Österreich ist eine stärkere Zentralisierung notwendig.
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Was meinen Sie mit subkritischen Strukturen?
Müller Es gibt Erhebungen über Komplikationen in Spitälern. Sie zeigen, dass etwa OPs an Standorten, an denen diese seltener durchgeführt werden, mit einem höheren Risiko verbunden sind. Das ist auch logisch, jede OP ist ein Training für die Spezialisten.
Vorarlberg geht den Weg der Fächerbündelung, statt der Standortschließung.
Müller Es ist sicher ein erster Schritt, aber die Herausforderungen gehen darüber hinaus. Alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind sich schnell einig, dass die Strukturen im österreichischen Gesundheitssystem überholt sind. Wir haben eine zu große Spitalslandschaft. Medizin wird immer noch mit Ärztezahlen und Spitalsbetten gleichgestellt, aber diese Gleichung ist überholt. Wir brauchen eine sinnvolle Dreiergliederung.
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Wie sieht die aus?
Müller Die Spitäler leiden an beiden Enden. Sie leiden darunter, dass sie Patienten versorgen müssen, die eigentlich im niedergelassenen Bereich versorgt werden sollten. Dafür benötigen wir die Primärversorgungszentren. Auf der anderen Seite finden wir in vielen Spitälern Patientinnen und Patienten, die eigentlich in eine Pflegeeinrichtung gehören. Wir brauchen daher mehr Pflegeinstitutionen. Das würde eine vernünftige Versorgung zur Folge haben, von der wir jetzt noch weit entfernt sind.
Wie reformfähig ist das österreichische Gesundheitssystem?
Müller Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass es nicht reformfähig ist. Das Wort “Gesundheitsreform” ist schon so abgenützt, dass es kaum jemand mehr ernst nimmt. Ich vermisse die Ambition, tatsächlich etwas zu ändern. Nach dem Tod einer Patientin in Oberösterreich ist zum falschen Anlass eine richtige Diskussion kurz aufgeflammt, aber sofort wieder abgeflacht. Das große Problem ist, dass unsere derzeitige Struktur als gegeben hingenommen wird.
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Aus Salzburg kam der Vorschlag, die Gesundheitsagenden in Bundeshände zu geben. Was halten Sie von dieser Idee?
Müller Es gibt im österreichischen Gesundheitssystem derzeit keine Gesamtverantwortung. Eine solche benötigen wir jedoch, was auch mit der Finanzierung aus einer Hand einhergehen würde. Derzeit sind wir enorm fragmentiert. Es gibt Länder, es gibt die Kassen, und plötzlich werden Patienten an Bundesländergrenzen nicht mehr versorgt. Die Diskussion um Gastpatienten ist ein Stresssymptom eines Systems, das nicht mehr gut funktioniert. Und jeder Schritt, der in Richtung Gesamtverantwortung geht, ist sinnvoll. Dass das nicht über Nacht gehen kann, ist auch klar.
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Und wir haben zu wenig Ärzte.
Müller Nein. Die Zahl der allgemeinmedizinischen Kassenordinationen ist in etwa so hoch wie vor 20 Jahren. Die Zahl der Wahlärzte ist hingegen durch die Decke gegangen. Das ist auch ein Symptom eines nicht mehr funktionierenden Systems.
Wir haben also keinen Ärztemangel?
Müller Sie müssen unterscheiden zwischen versorgungswirksamer und nicht versorgungswirksamer Medizin. Wahlärzte sind eine Zwischenform. Wir haben ein Problem in der öffentlichen versorgungswirksamen Medizin. Das sollten die allgemeinen Ordinationen sein. Die tun sich schwer, weil sie so wenig Zeit für die Patienten haben. Die durchschnittliche Dauer, die sich ein Arzt mit einem Patienten beschäftigen kann, liegt bei fünf Minuten. Auch deshalb geht der Trend in Richtung Spital. Aber die Zahl der Ärzte insgesamt hat sich in 25 Jahren verdoppelt, heuer haben wir ein Allzeithoch erreicht und eine der höchsten Ärztedichten der Welt.
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Woran fehlt es dann?
Müller Ärzte können nicht arbeiten, wenn es keine Pflegekräfte gibt. Vor allem im Bereich der chirurgischen Fächer finden in Österreich häufig deshalb keine Operationen statt, weil es einen OP-Pflege-Mangel gibt. Das ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass eine weitere Steigerung der Zahl von Medizinabsolventen nichts bringen würde.
Die Landesregierungen versuchen es mit gewidmeten Studienplätzen, die in Vorarlberg aber nicht angenommen werden.
Müller Sie sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn das System attraktiv wäre, würden junge Leute in Massen ins System strömen. Das sehen wir in der Schweiz, wo ein Drittel der Ärzte nicht in der Schweiz ausgebildet wurde. Österreich schafft es weder, die eigenen Ärzte im Land zu behalten, noch, attraktive Arbeitsbedingungen für Ärzte aus dem Ausland zu schaffen. Wir liegen bei der Zahl der ausländischen Ärzte unter dem EU-Schnitt.
Haben wir in Österreich eine Zweiklassenmedizin?
Müller Wir haben eine Kassenversorgung, eine Versorgung durch Wahlärzte und die Privatmedizin. Wir haben also de facto eine Dreiklassenmedizin.