Zwischen Hochgebirge und Wüste

Reise / 26.10.2012 • 10:42 Uhr
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Eine Luxus-Bahnfahrt mit dem „Rocky Mountaineer“ durch die
kanadische Wildnis.

Reise. (VN-U.Willenberg) Die Bahnstrecke zwischen Calgary und Vancouver gilt als eine der schönsten weltweit. Lange hat June gewartet, um sich eine Reise mit dem kanadischen Luxuszug „Rocky Mountaineer“ zu gönnen. „Ich träume schon seit vielen Jahren davon“, erzählt die 75-Jährige. Eine Stunde von Calgary entfernt passiert die Bahn den Banff Nationalpark und folgt dem Lauf des ungezähmten Bow River, der sich tief in die Rocky Mountains gegraben hat. Spät kommt der Sommer in dieses waldreiche Hochtal, das eingebettet liegt zwischen bis zu 3500 Meter hohen Bergriesen. Auf einer Waldlichtung am Fluss äst ein Elch, der sich von dem Lärm nicht stören lässt. Hinter Lake Louise ziehen die beiden 3000 PS starken Loks die elf bunten Waggons hinauf zur kontinentalen Wasserscheide. Vom Scheitelpunkt verläuft die Strecke westwärts hinab zum Kicking Horse River.

Spiralförmige Tunnel

Es sind nur wenige Kilometer bis in das Flusstal auf der anderen Seite des Gebirges. Doch die haben es in sich. Um das enorme Gefälle zu überwinden, ließ die Bahngesellschaft vor 100 Jahren zwei spiralförmige Tunnel in den Fels sprengen. Bis zum Bau des Tunnels führten die Gleise an den steilen Hängen des „Big Hill“ entlang. Die Steigung war abenteuerlich. Bis zu fünf Lokomotiven waren nötig, um die Waggons hinaufzuschieben.

Ein Alptraum war die Fahrt hinab ins Tal. Manche Züge wurden so schnell, dass sie entgleisten und in den Fluss stürzten. Bis heute bleibt die Bahnreise durch die kanadischen Berge eine Herausforderung. Vor allem im Winter. „Manchmal muss der Schnee von den steilen Hängen gesprengt werden, um Lawinen zu verhindern“, erzählt Zugbegleiter Ian.

Spektakuläre Aussicht

Nach der Ausfahrt aus den Spiraltunneln rollt der Zug durch den Yoho Nationalpark an der Westseite der Rocky Mountains. Die Schienen verlaufen auf einer schmalen Trasse zwischen senkrechten Felswänden und dem reißenden Kicking Horse River. Die Aussicht ist spektakulär. Dicht gedrängt stehen Passagiere auf einer offenen Plattform zwischen zwei Waggons. Herr und Frau Li kämpfen mit ganzem Körpereinsatz um die besten Plätze zum Fotografieren. Seniorin June dagegen speichert die Eindrücke in ihrem Kopf. Entspannt sitzt sie im oberen Stock des verglasten Aussichtswagens und genießt jeden Moment der Reise durch die atemberaubende Landschaft Westkanadas. Ihr entgeht auch nicht der Schwarzbär, der talwärts auf einer Lichtung steht. „Der war gestern schon da“, erzählt Ian. Das Tier hebt nur kurz den Kopf und mampft weiter Gras und Löwenzahn. „Vor einigen Tagen beobachteten Passagiere einen Bären, der auf der Ladefläche eines Lkw stand und der Bahn nachschaute“, berichtet Ian.

Immer wieder ändert sich das Landschaftsbild auf der atemberaubenden Fahrt in Richtung Pazifik. Es geht vorbei am Shuswap Lake, einem weit verzweigten Seengebiet inmitten von dicht bewaldeten Hügeln. Ein Paradies für 150 Vogelarten und die zahlreichen Touristen, die auf Hausbooten ihren Urlaub verbringen. Seeadler hocken in ihren Nestern, die sie auf alten Telegrafenmasten gebaut haben.

Eine Westernkulisse

Am nächsten Morgen rollt der „Rocky Mountaineer“ durch eine wüstenähnliche Landschaft mit staubigen Böden, roten Felsen und niedrigem Buschwerk. Es regnet nur selten, und im Sommer kann es bis zu 44 Grad heiß werden. Hier könnte man einen Western drehen. Indianer gibt es auch. Ihre Zelte haben sie längst gegen Wohnwagen und feste Häuser getauscht.

In der Ferne tauchen die schneebedeckten Gipfel des Küstengebirges auf. Kurz vor Vancouver erwartet die Passagiere das dramatische Finale ihrer Reise. Die Gleise zwängen sich durch tiefe Schluchten mit bildhaften Namen wie Lawinen Allee oder Rachen des Todes. Besonders furchterregend das Höllentor am Fraser River, wo sich der Canyon auf nur 33 Meter verengt. Auf einer Brücke über dem brodelnden Fluss hält der Zug für einen letzten Fotostopp. Auf Herrn Li wartet daheim viel Arbeit am Computer. Über 5000 Bilder hat er geschossen. Rentnerin June ist glücklich. „Mein Lebenstraum ist in Erfüllung gegangen“, sagt die Dame am Ende der 1100 Kilometer langen Reise.