Die Adria ist nicht nur Badestrand

Ferien an der Adria müssen nicht immer nur am Strand sein – das Hinterland lockt!
Reise. (VN-S. Brünjes) Keine Lust auf Adria-Ferien im Urlauberschließfach aus Beton mit überteuertem Strandliegeplatz? Die nahen, noch nicht überlaufenen Dörfer des Marecchia-Tals bieten Grusel-Gruben, geheimnisvolle Geschichten und unverfälschtes Postkarten-Idyll.Helga hat es schon vor 20 Jahren geahnt: Die Tourismus-Zukunft der Adria liegt nicht am lärmigen Partystrand mit seinen bis zu 27-stöckigen Bettensilos und regelmäßigem Verkehrsinfarkt. Sondern in der lieblichen, grünen Hügellandschaft westlich davon. Deshalb erklärte Helga Schenk den verdutzten Prüfern damals beim Reiseleiter-Examen, sie wolle keine Fragen zur Küste, denn dort werde sie garantiert nicht arbeiten. Dieses konsequente „Rimi-nie! Hinterland – si!“ hatte Folgen: Die heute 55-Jährige bekam ihre Zulassung nur in limitierter Ausführung – für 20 Kleinkleckersdörfer sozusagen.
Wie ein Schweizer Käse
Sie heißen Santarcangelo, Pennabilli oder San Leo, liegen versteckt im Marecchia-Tal und sind allesamt Helgas Heimspielorte. „Santarcangelo ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse“, sagt die gebürtige Deutsche und stößt das Tor auf zu einem unterirdischen Tunnel. Er führt in ein Labyrinth von etwa 150 Gruben. Im Funzellicht ihrer Taschenlampe führt Helga hinunter und schwärmt bedeutungsschwanger: „Bis heute ist nicht klar, wozu die Gruben dienten.“ Ein Fluchtsystem der nahen Burg? Eine religiöse Kultstätte – wegen der ins Tuffgestein modellierten Säulen? Oder nur Lagerstätte für Wein und Essen, weil es hier unten ganzjährig 12 bis 13 Grad kühl ist? „Sicher ist, so manche Grube diente schon als Kreißsaal“, sagt Helga und klärt dann auf: „Im Zweiten Weltkrieg, als Hunderte Familien sich hier versteckten, wurden Kinder geboren, die im ersten Jahr so gut wie keine Sonne sahen und später vorsichtig dran gewöhnt werden mussten.“ Der Gruben-Besichtigungs-Gesellschaft läuft ein leichter Schauer über den Rücken.
Die kleinste Ex-Hauptstadt
Weiter geht’s in die wahrscheinlich kleinste Ex-Hauptstadt der Welt: Das 3000-Seelen-Dorf San Leo wurde vom hierher geflüchteten König Berengar II. von 961 bis 963 zu Italiens Regierungssitz erklärt – „mit schmerzlichen Folgen für die Bürger, denn San Leo befand sich diese drei Jahre im Dauerbelagerungszustand“, erklärt die Reiseleiterin. Die Päpste im 18. Jahrhundert kerkerten in der wuchtigen, lange uneinnehmbaren Festung oberhalb von San Leo reichlich Kritiker, Ungläubige und andere per Inquisition Verfolgte ein. Vor dem bekanntesten Insassen hatten die Kirchenmänner so viel Angst, dass sie ihm eigens eine Zelle ohne Tür bauen ließen. Giuseppe Balsamo, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Graf Cagliostro, wurde durch eine heute noch zu bestaunende Deckenöffnung ins Verlies mit Holzpritsche und winzigem Gitterfenster herabgelassen. Der Grund: „Der geheimnisvolle Freimaurer, Arzt und Alchimist stand beim Vatikan in Verdacht, er könne Aufseher verhexen und durch Türen gehen, ohne sie zu öffnen“, erzählt Helga verschmitzt. Immerhin, Cagliostro wird bis heute als Unikum gefeiert – jährlich an seinem Todestag, dem 26. August, mit dem Alchimie-Fest der Gaukler und Wahrsager in San Leo.
Garten der vergessenen Früchte
Pennabilli, etwa eine halbe Autostunde entfernt, ist ein schönes Feierabend-Ziel. Denn so ab 17 Uhr steht die Sonne tief genug, um Häuserfassaden in Rosa und Weinrot sowie die prächtige Front der San-Lorenzo-Kirche in kräftigem Orange leuchten zu lassen. Zwei alte Frauen mit Kopftüchern humpeln Richtung Portal. Am Brunnen davor halten der örtliche Metzger und sein Nachbar ein Schwätzchen, eine Vespa knattert über den Platz. Könnte die Eröffnungsszene aus einem Bella-Italia-Sehnsuchtsfilm mit Caterina Valente sein, ist aber Realität pur. Helga lotst ihre Gäste in den „Garten der vergessenen Früchte“. Nein, kein Bio-Hof, sondern das Kunstwerk des hier ansässigen Tonio Guerra, eines Freundes von Filmregisseur Frederico Fellini. Ihm zu Ehren installierte Guerra eine Sonnenuhr in den Garten, die täglich um 15 Uhr das Konterfei von Fellini als Schatten auf einen Stein projiziert. In diesem ehemaligen Klostergarten mit Traumblick über das hügelige Marecchiatal stehen allerlei Bäume mit alten Birnensorten, Mispeln und ein Maulbeerbaum, den der Dalai Lama persönlich gepflanzt hat.