Melange, Buchteln und Literatur

Reise / 12.07.2013 • 10:29 Uhr
Corrected by Zoli

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Wiener Kaffeehaustradition. Mindestens so wichtig wie ein Besuch beim Stephansdom.

Reise. (VN-ber) Für Wien-Besucher ist es eine Attraktion, für Anrainer ein zweites Wohnzimmer, für Künstler und Literaten eine Institution: das Wiener Kaffeehaus. Seit 2011 zählt die Wiener Kaffeehauskultur sogar zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. „Auf der ersten Silbe betont, bezeichnet Kaffee ein Getränk, auf der zweiten betont, bedeuten Café und Kaffeehaus in Wien und Österreich eine Lebensform“, schrieb Hans Weigel 1978. Dieser Satz hat mit Sicherheit bis heute Gültigkeit: Es gibt in Wien rund 800 Kaffeehäuser, nicht mitgezählt die zahlreichen Café-Bars, Café-Restaurants und Steh-Cafés. Darunter befinden sich ungefähr 150 klassische Kaffeehäuser, in denen die Bedienung noch schwarz-weiße Kleidung trägt und die Einrichtung so einfach ist wie in der „guten, alten Zeit“: Holzboden, Marmortische, simple Sessel und plüschige Bänke.

Jedem sein Stammcafé

Jede „Szene“ hat in der Donaumetropole ihr Stammcafé: die Beamten der Ministerien etwa das Café Ministerium am Georg-Coch-Platz, die Kunst-Studenten das Prückel am Stubenring, die Politiker das Landtmann am Universitätsring. Im Kaffeehaus wird philosophiert, meditiert, tachiniert, Zeitung gelesen, getratscht, geknutscht, Billard oder Schach gespielt, mit Fremden über Gott und die Welt diskutiert und vieles mehr. Ja, und natürlich auch Kaffee und Kuchen genossen.

Tradition und Trubel

In den beliebtesten Kaffeehäusern der Stadt merkt man von der meditativen Stille früherer Zeiten nicht mehr viel. Das ehemalige Literatencafé Griensteidl beispielsweise liegt exakt an der touristischen Pilgermeile Hofburg-Kohlmarkt-Graben-Stephansplatz. Es ist für Wien-Besucher ein idealer Ort, um müde Füße auszustrecken und sich mit heißem Kaffee wieder auf Touren zu bringen. Das Café Central – seine große Säulenhalle wurde 1986 aufwendig wiederhergestellt – findet man nur 100 Meter weiter Richtung Universität bzw. Votivkirche. Beide Lokale blicken auf eine lange Tradition zurück. Speziell die Atmosphäre des „alten“ Griensteidl ist legendär: Von 1847 bis 1897, war das Café im ehemaligen Palais Dietrichstein Wiens bedeutendste kulturelle „Institution“. Kaum ein namhafter Schriftsteller, Schauspieler, Kritiker, Architekt oder Musiker des Fin de Siècle, der nicht hierher kam.

Ein anderer Treffpunkt der großen Namen der Jahrhundertwende (Gustav Klimt, Egon Schiele, Otto Wagner und viele andere) ist das 1899 eröffnete Café Museum in der Nähe des Naschmarktes und der Secession.

Die besten Buchteln

Ebenfalls im ersten Bezirk befindet sich das Café Hawelka. Seine Beliebtheit und sein „Künstler-Image“ gehen auf die Nachkriegszeit zurück: Hans Weigel, selbst Schriftsteller, Talente-Förderer und kulturelle Institution, erkor damals das kleine Kaffeehaus von Leopold und Josefine Hawelka zu seinem Zweitwohnzimmer. Der Grund: Es hatte bis nach Mitternacht geöffnet. Auch nach Josefines Tod im Jahr 2005 wird ihre jahrzehntealte Tradition aufrechterhalten, täglich ab 21 Uhr heiße, frische Buchteln zu servieren. Am 29. Dezember 2011 verstarb auch Leopold Hawelka in seinem 101. Lebensjahr. Noch bis zuletzt hatte die Kaffeehauslegende fast täglich einige Stunden in seinem kleinen, stets verrauchten Lokal in der Dorotheergasse verbracht. Dunstig ist es im Hawelka nun nicht mehr, schließlich gilt auch dort Rauchverbot – trotz heftiger Proteste der Stammgäste und eines von der Familie Hawelka eingebrachten Ansuchens auf „Denkmalschutz des Ambientes“, das abgelehnt wurde.

Nicht daheim, aber zu Hause

Nach dem großen Kaffee-haussterben der 1960er- und 70er-Jahre wurden in den darauf folgenden 20 Jahren zahlreiche Cafés im alten Stil restauriert, darunter so bekannte wie das Schwarzenberg am Kärntner Ring oder das Landtmann. Manches andere Alt-Wiener Café fand sich plötzlich als zeitgenössische Espresso-Bar wieder. Als Paradebeispiel für die Kombination von Tradition und modernem stylischen Ambiente gilt das Café Drechsler beim Naschmarkt. Das Lokal, das 1919 erstmals seine Pforten öffnete, wurde vom britischen Stararchitekten Sir Terence Conran behutsam umgestaltet und bietet sich seinen Gästen seit 2007 als „Wiener Kaffeehaus im Stil des 21. Jahrhunderts“. Geöffnet ist von Donnerstag, 8 Uhr morgens, bis Sonntagmitternacht sogar rund um die Uhr. Die Kaffeehäuser mögen sich verändert haben, aber die Gründe, sie zu besuchen, sind die gleichen geblieben. Noch immer ist das Café, wie Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ schrieb, „eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann“. Nicht daheim, und doch zu Hause kann man sich hier fühlen. Oder: allein, und doch in Gesellschaft.