Tessin: Gewagte Architektur am Monte Generoso

Reise / 23.08.2020 • 09:00 Uhr
Tessin: Gewagte Architektur am Monte Generoso
SCHWEIZ TOURISMUS/LORETA DAULTE

Wandern in der Region Mendrisiotto verspricht grandioses Panorama, kulinarische Hochgenüsse und überraschende Ingenieurskunst.

Tessin Gemächlich zuckelt die nostalgische Elektro-Zahnradbahn – eine der ältesten ihrer Art – auf den 1704 Meter hohen Monte Generoso, den bedeutendsten Aussichtsberg der Region Mendrisiotto im Kanton Tessin. Dabei erklimmt sie auf fast zehn Kilometern 1332 Höhenmeter in knapp vierzig Minuten. Heute steuert Elisabeth Dani die gute alte Zahnradbahn. Und das bereits seit elf Jahren. „Bis zum Jahr 1950“, erzählt sie stolz, „schnaufte auf dieser Strecke, die 1890 eingeweiht wurde, eine alte Dampflok aus der Belle Époque. In den Sommermonaten wird sie alle zwei Wochen wieder angeheizt und bringt Nostalgiker auf dem aussichtsreichsten Berg der italienischen Schweiz wieder ins Schwärmen.“

Dann steht unsere siebenköpfige Reisegruppe an der Bergstation, nur ein paar Höhenmeter unter dem Gipfel, und bestaunt auf einem Plateau ein architektonisches Meisterwerk. Geschaffen hat es der Stararchitekt Mario Botta als mehrstöckige „Steinblume“ mit Restaurants, Aussichtsplattform und einem 360-Grad-Rundumblick. Unten in den Tälern schimmern jetzt im Sonnenlicht die Seen von Lugano, Como, Varese sowie der Lago Maggiore. Der Blick geht bis in die Po-Ebene mit Mailand sowie zur grandiosen Bergkette mit dem Matterhorn. Einige Einheimische erzählen, dieses Bauwerk sei ihnen zu modern und gehöre eigentlich in ein modernes Dorf-Ensemble. Sie hätten auf dem Monte Generoso lieber ein typisches Schweizer Berghaus. Für die anderen ist es das Highlight schlechthin. 

Tessin: Gewagte Architektur am Monte Generoso

Moderne trifft auf Nostalgie

Nur wenige Schritte vom Modernen entfernt treffen wir auf pure Nostalgie in der uralten Alp Clericetti. Und diese Alp führen bereits in der fünften Generation Marisa und Aurelio Clericetti. Zu ihrem Betrieb gehören neun Kühe und 30 Schafe, mit denen sie von Mai bis Oktober vom Muggiotal auf die höchste Alp des Monte Generoso ziehen. Auf der kleinen Terrasse mit dem sagenhaften Ausblick ins Tal bewirtet Marisa ihre Ausflugsgäste mit den eigenen Käsesorten. Darunter sind beispielsweise der gut zwei Wochen alte Furmagin und der köstlich reife, drei Monate alte Zincarlin. „Ihn“, den mit Bergkräutern angereicherten Käse, so strahlt die taffe Sennerin, „verkaufe ich für 17 Franken. Nur kann ich davon gerade mal 40 Stück im Jahr herstellen“, bedauert sie. Das Tal ist Heimat dieses pikanten Rohmilchkäses, der im 19. Jahrhundert im Tessin noch in jeder Familie produziert wurde. Fast wären diese kleinen, pyramidenförmigen Laibe, die in den Felsenkellern des Mendrisiotto reifen, für immer verschwunden. Einheimische brachten 2005 die kommerzielle Produktion wieder in Schwung und retteten so das kulinarische Erbe. Hergestellt aus auf den Alpen des Monte Generoso gewonnener Kuh- und Ziegenmilch, steht der Zincarlin heute unter dem Schutz von Slow Food. 

Tradition am Monte Generoso: Formaggini-Königin Marisa Clericetti beim Bewirten der Gäste. <span class="copyright">Schweiz Tourismus/Ivo Scholz</span>
Tradition am Monte Generoso: Formaggini-Königin Marisa Clericetti beim Bewirten der Gäste. Schweiz Tourismus/Ivo Scholz

Nach dem Genuss des würzig-köstlichen Zincarlins und eines guten Glases Merlot aus dem Mendrisiotto verlässt unsere kleine Gruppe unter Führung von Silvio Bindella die Alp und macht sich auf den Fußweg hinunter nach Scudellate ins Muggiotal. Es gilt als eine der authentischsten und traditionellsten Gegenden des Tessins. Wir entscheiden uns für den steilsten Weg, der große Trittsicherheit erfordert. Dafür werden wir mit grandiosen Aussichten belohnt. Unterwegs erklärt Silvio an verlassenen Gehöften mitten im Berg das architektonische Zeugnis der tausendjährigen Bauernkultur, den Nevère. „Dies“, sagt er, „ist ein Vorgänger des modernen Kühlschrankes. Diese kleinen runden Steinhäuser mit Steindach wurden im Winter mit Schnee gefüllt. Darauf haben sie im Frühling eine Schicht Blätter gelegt. So konnten die Bauern ihre Milch den Sommer über bei einer konstanten Temperatur von zehn Grad aufbewahren, bevor sie diese zu Butter und Käse weiterverarbeiteten.“ 

Weiter nach Scudellate

Weiter geht’s hinunter ins kleine Dörfchen Scudellate, das sich am Ende des Muggiotales befindet. Von da gibt es nur einen Fußweg hinüber zur italienischen Grenze. Warmherzig werden wir von Piera Piffaretti empfangen, die in dem fast verlassenen Bergdorf eine kleine Pension, ein Restaurant und einen winzigen Tante-Emma-Laden betreibt. „Vor 80 Jahren hatten wir noch eine Schule mit 30 Kindern“, erzählt die alte Dame. „Heute zählt unser Dorf gerade noch zwanzig Einwohner. Aber“, und hier strahlen ihre Augen, „nach und nach kommen einige wieder zu uns zurück.“ Das liegt daran, dass ihr Dorf zu einem Hoteldorf umgestaltet wird – inklusive Wander- und Kulturangebot. Zahlreiche Eigentümer  beteiligen sich an dieser Idee und richten ihre Häuser entsprechend her. Die Rezeption wird im Restaurant von Piera sein. Bevor unsere Gruppe die Herberge verlässt, läuft die Wirtin noch zu Hochform auf und schmettert mit ausgestreckten Armen herzzerreißend alte Lieder ihrer Heimat. Gerd Krauskopf (srt)

Tessin

Amtssprache Italienisch

Hauptort Bellinzona

Lage Das Tessin macht den größten Teil der italienischen Schweiz aus und liegt auf der südlichen Seite des Alpenhauptkamms.

Monte Generoso Alle Informationen zum Besuch des Monte Generoso auf www.mendrisiottoturismo.ch