An der Kippe zum Polizeistaat
Derangierte Terroristen meucheln in Frankreich, und die reflexartigen Reaktionen der Politiker diesseits und jenseits des Atlantik folgten angsterregend schnell: Sie fordern mehr Wachsamkeit, mehr Kontrolle, mehr Überwachung und mehr Registrierung. Regierungsvertreter in Washington waren mit der Ankündigung “angemessener Schritte zur Erhöhung der Sicherheit” erwartungsgemäß die Ersten, und wie die Lemminge an der Klippe zum Polizeistaat folgten die europäischen Trabanten.
Mit Logik hat der Aktionismus dabei rein gar nichts zu tun. Es geht schließlich um die Verhinderung terroristischer Verbrechen, um das staatliche Bekämpfen längst bekannter potenzieller Täter, und nicht darum, alles und jeden unter Generalverdacht zu stellen. Denn ausnahmslos alle terroristischen Täter der letzten Jahre in den westlichen Ländern – einschließlich der Mörder in Paris – waren „alte Bekannte“ der Sicherheitsbehörden. Sie wurden „beobachtet und überwacht“. Aber nicht eine einzige ihrer widerwärtigen Taten ist durch das Registrieren und Überwachen verhindert worden. Ungestört morden konnten religiös motivierte Täter sowie rechts- und linksradikale Mörder.
Welchen Sinn soll da die verlangte Komplettüberwachung und Registrierung der Menschheit durch diverse Obrigkeiten machen? Um noch mehr Menschen nach natürlich geheimen Kriterien auf irgendwelche Verdächtigtenlisten zu setzen und noch tiefer in einer Datenflut zu versinken, um dann erst recht „Arbeitsüberlastung“ für die fortgesetzte Nichtverfolgung von Tatverdächtigen zu reklamieren, gegen die konkrete Anhaltspunkte für längst begangene und geplante neue terroristische Straftaten bekannt und registriert sind? Wie etwa bei der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) mit dem Versagen der vielleicht nur so genannten Verfassungsschützer in Deutschland?
Versuchen wir es doch einmal mit Klartext: Kann es sein, dass die Politiker mit ihrem „mehr Überwachung muss sein“-Gezeter von eigenem Versagen und dem ihrer oft schändlich vernachlässigten und oft an eine sehr kurze Leine gelegten Sicherheitsbehörden ablenken wollen? Und wollen die Politiker die Mordtaten mit dem Schüren eines Gefühls der allgegenwärtigen Bedrohung für andere Zwecke missbrauchen? Etwa für die Etablierung eines die „Volksgemeinschaft“ ruhigstellenden Überwachungsstaates? Weil sie ja nur unser Bestes wollen? Auch andere politische Gruppierungen und Bewegungen müssen sich fragen lassen, ob sie die terroristischen Mordgeschichten für ihre Zwecke missbrauchen wollen. Etwa die Anti-Muslim-Krakeeler und völkische-Reinheiten-Prediger. Das sind nicht nur die Le-Pen-Fans.
Es ist ja gut und wichtig, dass nach den Morden in Paris Millionen mit „Je suis Charlie“-Solidaritätsbekundungen auf die Straßen gehen. Aber dazu müssen Forderungen an die Politiker und Sicherheitsbehörden kommen: Lasst den Unsinn mit der Totalüberwachung, konzentriert euch stattdessen auf wirklich wirksame Mord- und Anschlagsverhinderung auch mit der Entschärfung sozialer Brennpunkte. Und schafft endlich die materiellen Voraussetzungen für das Dingfestmachen amtsbekannter Mordtäter, Mordplaner und Mordprediger, die übrigens, wie wir alle wissen, in einigen Moscheen, aber nicht nur da zu finden sind. Der Weg in den Polizeistaat diesseits und jenseits des Atlantiks ist ein Irrweg, der alles nur noch schlimmer machen würde.
Peter W. Schroeder, Washington