Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Vereint verwundet

Spezial / 22.03.2016 • 22:40 Uhr

Sie wollten nicht einzelne treffen, diese Anschläge galten uns allen.

Man will den Terroristen den Gefallen nicht tun, verängstigt zu sein. Doch Tatsache ist, dass blutige Terroranschläge wie gestern in Brüssel, im Herzen Europas, uns in Mark und Bein treffen. Europas politische Grundfeste werden dadurch erschüttert. Und auch wenn es niemals einen guten Moment für einen Terroranschlag gibt – jene von gestern treffen die Europäische Union im denkbar ungünstigsten Moment.

Die große Frage ist, ob nach den Beileids- und Solidaritätsbekundungen Europa zu einer einheitlichen Antwort findet. Oder ob wieder 28 Außenminister ihr Befinden bekunden und 28 Innenminister nationalstaatliche Verteidigungslinien erfinden. Ob die 28 Mitgliedstaaten tiefer in die Nationalstaatlichkeit driften, oder ob Europa doch noch zusammenwächst. Die Terroristen werden weiterhin alles tun, um Europa zu destabilisieren. Divide et impera! Ein gespaltenes Volk ist wesentlich einfacher zu besiegen, ja zu beherrschen.

Der Rauch hat sich kaum gelegt. Es wird einige Zeit brauchen, bis die Hintergründe der Brüsseler Anschläge ans Tageslicht kommen. Dass die Anschläge nicht einmal eine Woche nach der Festnahme von Europas meistgesuchtem Terrorverdächtigen passiert sind, lässt vieles nach islamistischer Rache aussehen. Doch eine solche Anschlagsserie braucht eine lange Vorbereitung. Und der Tatort Brüssel riecht nach dem Anschlag einer weiteren Terrorzelle vor der eigenen Haustür. Denn von den 5000 Dschihadisten aus Syrien, die Interpol in Europa vermutet, sollen allein 100 im Brüsseler Problem-Stadtteil Molenbeek leben.

Die Wahrheit ist: die 28 europäischen Geheimdienste haben wenig Ahnung, wer es ist, der zuschlagen könnte. Zu lange haben wir den IS machen lassen, er war ja weit weg. Viele sind unregistriert in Europa. Jetzt lernen wir, dass die Paris-Terroristen nach jedem Anruf ihr Handy wegwarfen und auf eine andere Nummer umstiegen. Es ist nahezu unmöglich, solchen Spuren zu folgen. Auch dass der Terrorverdächtige Salah Abdeslam erst vier Monate nach den Anschlägen von Paris gefasst werden konnte, beunruhigt.

Man muss die traurige Diagnose treffen: Schon heute ist der Schengen-Vertrag, der den freien Personenverkehr in Europa sichert, nur noch ein Gerippe. Frankreich hat Passkontrollen an vielen Flughäfen und Außengrenzen eingeführt, Deutschland ja auch. Die Reaktionen auf diese Anschlagsserie werden dem Traum vom unkontrollierten Reisen in Europa nicht zuträglich sein.

Terror kann jeden überall treffen. Das ist doch die eigentliche Botschaft. Und tatsächlich wird Terror auf absehbare Zeit in Europa zu unserem Leben gehören. Uns vom Terror aber uneuropäischer machen zu lassen, uns von der offenen Weltsicht abzukehren oder unsere Grundwerte über Bord zu werfen – das darf Terrorismus nicht schaffen.

Und tatsächlich wird Terror auf absehbare Zeit in Europa zu unserem Leben gehören.

gerold.riedmann@vorarlbergernachrichten.at, Twitter: @geroldriedmann, Tel. 05572/501-320

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.