Europa auf dem Prüfstand
„Too close to call“ heißt es im Englischen, wenn etwas echt sauknapp ist. Und wie die Briten am kommenden Donnerstag abstimmen, ist tatsächlich nicht zu prognostizieren. Die Umfragen sind unverlässlich. Und welchen Einfluss die Ermordung der Labour-Politikerin Jo Cox haben wird, lässt sich derzeit nicht absehen. Was in Kontinental-Europa massiv unterschätzt wird: Es liegt jedenfalls im Bereich des Möglichen, dass die Briten austreten werden. Dass dies massive Auswirkungen auf Europa, auf Österreich hat, muss man erst begreifen. Am Austritt der Briten könnte Europa in seiner heutigen Form zerbrechen. Gleichzeitig könnte aber auch ein enger vernetztes, tiefer integriertes Europa von weniger Staaten entstehen.
Vorweg: Nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen sind hier gemeint. Diese werden zu kitten sein – mit bilateralen Abkommen, so wie sie auch die Schweiz mit Europa abgeschlossen hat. Doch im Innenverhältnis Europas ändert ein drohender Brexit die Spielregeln grundlegend.
Wer heute in Europa einen Austritt seines Landes aus der EU fordert, ist Rechtspopulist, Fantast oder wird als verrückt abgestempelt. Statuieren aber die Briten erfolgreich das Exempel, dass ein EU-Austritt Realität werden kann, verschiebt sich die Grenze des Möglichen. Verschärfend kommt hinzu: Es gibt keinen definierten Austrittsprozess in der EU. Den muss Brüssel erst erfinden – und deshalb wird sich die Bürokratiemaschine selbst lähmen.
Dazu muss man wissen: In Großbritannien wird die EU-Kampagne allein von wirtschaftlichen Argumenten getragen. Die Befürworter des Austritts haben dagegen das Integrationsthema gepachtet. Es ist die Flüchtlingsfrage, welche die Briten aus Europa treibt. Und der einzige Grund zum Bleiben ist wirtschaftliche Vernunft.
Alles Weitere obliegt dann Heinz-Christian Strache, Geert Wilders, Marine Le Pen und Gruppierungen wie der AfD: Sie können Europa zu demontieren beginnen, weiter mit dem Rückenwind der gescheiterten Flüchtlingspolitik.
Allerdings: Ein Brexit könnte auch einen wichtigen Anstoß für Kontinental-Europa geben, dass jene Länder, die stärker vernetzen wollen, das auch tun. Ein Europa der tieferen Integration, das mit Briten und Osteuropäern zum momentanen Zeitpunkt nicht machbar ist. Mit gemeinsamem Außenminister, gemeinsamer Grenzsicherung und Armee.
Europa, unser Friedensprojekt, steht jedenfalls auf dem Prüfstand.
Dass dies massive Auswirkungen auf Europa, auf Österreich hat, muss man erst begreifen.
gerold.riedmann@vorarlbergernachrichten.at, Twitter: @geroldriedmann, Tel. 05572/501-320
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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