Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Das Ende des Anstands

VN / 09.06.2025 • 11:26 Uhr

Donald Trump und Elon Musk sind keine besten Freunde mehr. Das lassen der US-Präsident und der Milliardär die Welt jetzt täglich wissen und man weiß nicht so genau, ob man wirklich alle Details dieser räudigen Version der alten Seifenoper „Reich und Schön“ mitbekommen will, inklusive der gegenseitigen Beleidigungen und Drohungen. Am Wochenende richtete Trump seinem ehemaligen Berater und Vertrauten Musk in einem NBC-Interview gar aus, dass dieser „ernsthafte Konsequenzen“ zu erwarten habe, falls er nun die politischen Gegner des Republikaners unterstützen würde. Und auf die Frage, ob seine Beziehung zu dem Unternehmer vorbei sei, sagte Trump: „Das würde ich annehmen, ja.“ Stellen wir uns nur kurz einmal vor, zwei mächtige Frauen würden sich auf der Weltbühne derart unprofessionell benehmen – ihre Reputation hätte sich schon alleine durch dieses Verhalten erledigt.

Bei mächtigen Männern amüsieren sich viele zwar über diese zur Schau getragene Emotionalität und Irrationalität – tatsächlichen Schaden fügt es den Männern am Rande des Nervenzusammenbruchs aber nicht zu. Das Verhalten von Trump und Musk steht für ein Phänomen unserer Zeit, das sich auch überall offenbart, wo nicht so mächtige Menschen im Alltag miteinander zu tun haben: Unverschämte Forderungen, übergriffige Nachrichten, wenn man etwas von jemand anderem will, anstatt höflich anzufragen; aggressiver Ton statt einem Mindestmaß an Freundlichkeit, das das Zusammenleben etwas leichter machen kann.

 Hauptsache Profilierung

Es ist die Unverschämtheit der Getriebenen, die ihren Druck auch an andere weitergeben. Und es ist das Ende der Höflichkeit und des Anstands. Altmodische Tugenden, die in unseren Gesellschaften schon länger an Bedeutung verloren haben. Wer sich bemüht, sich anständig zu verhalten, gilt manchmal sogar als anstrengend und ein bisschen ungeschickt, weil er oder sie nicht nur auf den eigenen Vorteil schauen will. Anstand bringt in der Regel auch nicht die Aufmerksamkeit, die Klicks, die Quote, nach der jene dürsten, die sich auf Kosten anderer profilieren wollen. Der Anstand, das fremde Wesen in Zeiten der Regentschaft der großen Social-Media-Plattformen.

Manchmal macht anständiges Verhalten natürlich keinen Spaß, und niemand weiß, ob man dafür gewürdigt oder irgendwann belohnt wird. Anstand ist keine Leistung, mit der man sich aufspielen sollte. Doch wenn wir uns bemühen, die alte Tugend so gut wie möglich umzusetzen, können wir in der immer schnelleren, unkalkulierbareren Welt besser mit uns und den anderen leben. Der Anstand kann ein Fundament sein, auf das man gemeinsam bauen kann – jedenfalls stabiler als auf Aggression und Rücksichtslosigkeit.

Der Anstand, das fremde Wesen in Zeiten der Regentschaft der großen Social-Media-Plattformen.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.