Kommentar: Die Anerkennung der anderen

VN / HEUTE • 07:20 Uhr
Kommentar: Die Anerkennung der anderen

Der Welt fehlt leider jede Weihnachtsmilde, nicht nur in den Kriegsgebieten wie in der Ukraine oder im Sudan. Die Liste der Konfliktfelder in unseren Gesellschaften wird immer länger, die grausige Mischung aus Verächtlichkeit und Furor immer gefährlicher – das offenbart sich täglich in den emotionalisierten Diskussionen, die auf den Social-Media-Plattformen geführt werden und von dort dann oftmals die gesamte öffentliche Debatte vergiften.

„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ – dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe ist wohl im Alltag zu hoch gegriffen, da sollten wir uns nichts vormachen. Es kann allerdings ein guter, lebbarer Ansatz sein, anderen Menschen grundsätzlich ihre Würde zuzugestehen. Denn wie der große Aufklärer Immanuel Kant sagt, der Mensch ist „ein Zweck an sich“ und darf daher nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden: „Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.“ Ungeachtet von Hintergrund, Weltanschauung oder von der Tatsache, dass die andere Person einen schlicht nervt.

Wenn man die negativen Entwicklungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft aufhalten will, braucht man allerdings auch den nächsten Schritt: Die Anerkennung der anderen. Wir befinden uns laut dem deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth alle in einem immerwährenden „Kampf um Anerkennung“. Und weil der Mensch als Individuum mit Würde nur dank der Wertschätzung seiner Mitmenschen existiert, sind zerstörte Anerkennungsverhältnisse für Honneth ein Indiz, um systematische Fehlentwicklungen der Gesellschaft festzustellen. Es geht also immer darum, dass man sich wechselseitig anerkennt.

Ich sehe dich

Wechselseitige Anerkennung nach Honneth kann also ein erster Schritt sein, um wieder mehr Dialog in der Gesellschaft zu erreichen. Und den Druck gegensätzlicher Interessenslagen auszugleichen, der auf unseren Systemen lastet. Man wird nie alle Bedürfnisse erfüllen und Probleme auflösen können, also Kompromisse suchen müssen. Dennoch kann man den anderen das Gefühl vermitteln: Ich sehe dich und das, was dich bewegt.

Was dabei für alle Beteiligten hilfreich wäre: Mehr Gelassenheit, wobei man diese nicht mit Gleichgültigkeit gleichsetzen darf. Das Leid und die Probleme der Welt können uns nicht egal sein. Doch bei jedem Reizthema auszurasten und mit den anderen in einen Infight zu gehen, wie es viele jeden Tag auf Social Media tun, wird uns als Gemeinschaft nirgendwohin bringen. Diese Emotionsstürme nutzen in erster Linie jenen, die gerne mit Gefühlen spielen, um daraus Kapital zu schlagen. Mehr Gelassenheit für uns alle, natürlich auch für mich selbst – das wäre mein Wunsch zu Weihnachten.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.