„Hallo, du mein ­geliebtes Peterle“

Vorarlberg / 05.11.2013 • 19:31 Uhr
Alfred und sein Vater Johnny: Eine Geschichte, die nicht mal Hollywood erfinden könnte. Foto: VN/Paulitsch
Alfred und sein Vater Johnny: Eine Geschichte, die nicht mal Hollywood erfinden könnte. Foto: VN/Paulitsch

Wie Alfred Hämmerle als 67-Jähriger erstmals seinen 93-jährigen Vater sah.

Lustenau. Alfred Hämmerle hat es im Leben schwer. Da sitzt er im Kellerzimmer eines Lustenauer Wohnhauses. Gehörlos, eine Reihe von schweren Krankheitsgeschichten hinter sich, die Vogerl des Glücks scheinbar weit an ihm vorbeigeflogen. Und doch begleitet ihn durch seinen eintönigen Alltag seit vier Jahren eine ganz besondere Freude. Genau vor vier Jahren nämlich hat der Lustenauer erfahren, dass sein Vater noch lebt. In Marokko, mittlerweile 93 Jahre alt. Und in diesem Sommer sah Alfred, das Besatzungskind, seinen Vater erstmals leibhaftig. Ein Wiedersehen, wie es selbst die Fantasie-Abteilung Hollywoods wohl kaum in ihrem Repertoire führt.

Er liebte sie über alles

Aber der Reihe nach. Kriegsende Frühjahr 1945 in Lustenau. Besatzungszeit. In Lustenau sind französische und marokkanische Soldaten. Zu Letzteren gehört auch der fesche Johnny. Er sieht gar nicht arabisch und schon gar nicht afrikanisch aus. Als Johnny Mathilde Hämmerle sieht, und umgekehrt, stehen die Zeichen bald auf große Liebe. Mathilde wird schwanger, doch Johnny muss mit seinen Soldatenkameraden bald abziehen. „Der damalige Lustenauer Bürgermeister war strikt dagegen, dass Johnny bleiben darf. Er sei ein Feind, meinte er.“ Gerda Weiss (73), Mathildes Schwester, erinnert sich noch genau daran, wie das damals war. Vor allem Johnny blieb ihr unvergessen. „Er schenkte mir als kleines Mädchen die erste Schokolade meines Lebens. Und er liebte meine Schwester über alles.“

Briefe aus Nordafrika

Johnny beweist das auch von Marokko aus. Vier Jahre lang schreibt er Briefe und Postkarten an seine Geliebte. „Komm mit unserem Sohn zu mir nach Marokko. Ich kann als Ältester meiner Geschwister nicht mehr weg“, fleht er Mathilde an. Seinen Sohn nennt er Peterle, weil Alfred mit seinem zweiten Namen Peter heißt und dem Vater das so gut gefällt. „Nach vier Jahren gab Johnny dann auf“, erzählt Schwester Gerda. Das Leben nimmt seinen Lauf. Im marokkanischen Dorf Zajo, wie auch in Lustenau. Alfred wird als Baby gehörlos. „Er wog bei der Geburt nur 1,18 Kilo. Entsprechende medizinische Mittel fehlten damals. Das Gehör verkümmerte“, erzählt Tante Gerda Weiss. Zehn Jahre lebt der arme Bub in einem Internat für Gehörlose in St. Gallen. Später wird „Peterle“ ein einfacher Arbeiter. Zwei Mal heiratet er, hat drei Kinder – aber auch viel Pech und noch mehr gesundheitliche Probleme. Für einen Gehörlosen hat er indes gut sprechen gelernt. Mit überdeutlicher Artikulation. Damit ihn auch jeder versteht.

Der Herzinfarkt

Als vor drei Jahren plötzlich Bürgermeister Kurt Fischer bei ihm auftaucht, kennt sich Alfred gar nicht aus. Und als er von Fischer erfährt, wie der Kollege seines Stiefbruders aus Deutschland ihn ausgeforscht hatte, und dass sein Vater noch lebt, ist seine Welt nicht mehr so wie sie vorher war. „Aber dann war ich nur noch glücklich“, sagt Alfred. Schnell gibt es Kontakt mit dem Stiefbruder, der in Köln lebt. Und mit dem Vater in Marokko. Moderner Technik sei Dank sieht der Lustenauer Sohn seinen marokkanischen Vater via Skype. Der Stiefbruder aus Köln kommt ihn mit seiner Verwandtschaft besuchen. Doch just als sie da sind, erleidet Alfred einen Herzinfarkt. Die geplante Reise nach Marokko scheint in weite Ferne gerückt, ein Treffen von Vater und Sohn nach 67 Jahren nicht mehr möglich.

Die Tränen fließen

Gott sei Dank erholt sich Alfred wieder. Dann sagte der Arzt: „Lasst ihn nach Marokko reisen. Das ist die beste Medizin für ihn.“ Im August dieses Jahres fuhren sie: Alfred, sein Sohn Lukas und dessen Freundin Claudia. Die Gemeinde Lustenau bezahlt auf Initiative von Bürgermeister Fischer den Flug. Am Flughafen von Nadar im Norden Marokkos dann der Moment, der ein normales Leben zu einem außergewöhnlichen macht: Das Treffen mit seinem top­fiten 93-jährigen Vater Johnny. „Hallo, mein geliebtes Peterle“, sagt der Vater zu ihm. Sie liegen sich in den Armen, die Tränen fließen. Und die in Regimentsstärke mitgekommene Verwandtschaft steht tief gerührt dabei. Alfred „Peterle“ wird in Marokko eine Woche lang von morgens bis abends verwöhnt. Er hat sieben Geschwister, doch diese Woche ist er für den Vater wie dessen einziger Sohn. „Jetzt will Papa sogar Deutsch lernen“, strahlt der 67-jährige in seinem Lustenauer Keller­zimmer. Johnny möchte schließlich besser mit seinem Erstgeborenen reden können. Wenn dieser wieder kommt. Und das will er unbedingt.

„. . . wenn ich am Ende der Welt wäre, würde ich immer an dich denken ...“ Berührende Liebesbriefe von Johnny aus Marokko im Jahre 1945.
„. . . wenn ich am Ende der Welt wäre, würde ich immer an dich denken …“ Berührende Liebesbriefe von Johnny aus Marokko im Jahre 1945.