Gemeinsames Dach
Die am vergangenen Sonntag abgehaltene inoffizielle Volksbefragung in Katalonien hat eine überwältigende Zustimmung der Bürger zur Unabhängigkeit dieser Region von Spanien gebracht. Es ist dem unklugen Verhalten der spanischen Zentralregierung, die die ursprünglich geplante Abstimmung für illegal erklären ließ, zu verdanken, dass die Separatisten den Umstand, dass nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten an der Befragung teilgenommen haben, für sich reklamieren können. Immerhin war die Befragung nicht nur für verfassungswidrig erklärt worden, die Regierung in Madrid hatte ja auch erklärt, dass das Ergebnis völlig wertlos und die Teilnahme sinnlos sei. Außerdem war bis zuletzt unklar, ob die Befragung stattfinden würde. So gesehen ist die Beteiligung tatsächlich überraschend hoch.
Man kann davon ausgehen, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung Kataloniens für die Unabhängigkeit ist. Vorläufig wird sich in Spanien trotzdem nichts ändern. Was sich nach den Parlamentswahlen im Herbst nächsten Jahres ergeben wird, weiß man noch nicht. Es wäre nicht überraschend, wenn die separatistischen Parteien im Parlament eine wichtige Rolle als Mehrheitsbeschaffer spielen und dadurch zumindest weitere Zugeständnisse erringen können.
Viele Menschen in Europa stehen den Bestrebungen von Regionen wie Schottland oder Katalonien, aber auch Flandern und Teilen Oberitaliens nach Unabhängigkeit von ihren Zentralstaaten skeptisch gegenüber und befürchten einen neuen Nationalismus und neue Grenzziehungen. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Die alten Nationalstaaten werden zunehmend brüchig, weil viele ihrer Funktionen auf die Europäische Union übergegangen sind. Die Grenzen werden in Europa zunehmend unsichtbar. Außerdem ist kein staatliches Gebilde für die Ewigkeit gemacht.
Die Europäische Union scheint nach wie vor wie gelähmt. Eigentlich wäre die gegenwärtige Entwicklung eine große Chance für die Union, zu beweisen, dass sie das gemeinsame Dach für alle Bürger Europas ist, das für Sicherheit und Freiheit sorgt. Unter diesem Dach wäre noch viel Platz, aber nur dann, wenn die Entscheidungsstrukturen der Union angepasst würden. Darüber und auch über einen europäischen Bundesstaat sollte endlich einmal nachgedacht werden.
peter.bussjaeger@vorarlbergernachrichten.at
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus
und Universitätsprofessor in Innsbruck.
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