“Mehr Wölfe werden kommen”

Auch die Entstehung eines Rudels in Vorarlberg hält Wolf-Experte Gerke für möglich.
St. Gallen. Im Bereich des Schweizer Calanda-Tals in den Kantonen Graubünden und St. Gallen geht es einigen der dort ansässigen Wölfen aus dem Rudel nun wohl an den Kragen. Zwei der geschützten Tiere sollen bald abgeschossen werden. Das wollen die Kantone, weil die Tiere angeblich immer mehr die Scheu vor Menschen ablegen und sich mehr und mehr den Siedlungsgebieten nähern. Man habe beim Bundesamt für Umwelt um die Genehmigung für die Abschüsse von zwei Rudeltieren angesucht. Es ist anzunehmen, dass diese Abschüsse auch genehmigt werden. Eine Entscheidung darüber soll noch in dieser Woche fallen. Vom Calanda-Gebiet sind bereits mehrfach Wölfe nach Vorarlberg gewandert und haben bei uns auch schon Schafe gerissen.
Wölfe verlieren die Scheu
„Wir müssen das tun“, verteidigt Dominik Thiel (40), Leiter des Amtes für Natur, Jagd und Fischerei, das Gesuch. „Es gibt mittlerweile schon so viele Beobachtungen von Wölfen in Siedlungsgebieten, dass wir mit Sicherheit sagen können: Die Wölfe verlieren zusehends die Scheu vor den Menschen.“ Man habe es zuvor mit Vergrämungsmaßnahmen und der Entfernung potenzieller Futterquellen versucht. „Aber das hat nicht den erwünschten Erfolg gebracht“, betont Thiel gegenüber den VN.
Gibt es vom Bund das Okay für den Abschuss, können die Gegner der Maßnahmen zwar eine Beschwerde einreichen, über eine allfällige aufschiebende Wirkung der Abschusserlaubnis entscheiden jedoch die Kantone. Soll heißen: Die Behandlung der Beschwerde muss nicht abgewartet werden. Die Wölfe können sofort erlegt werden. „Passieren müsste das spätestens bis Ende März“, erläutert Thiel.
10.000 Unterschriften
Gegen den möglichen Abschuss von zwei Rudeltieren setzt sich die „Gruppe Wolf Schweiz“ vehement zur Wehr. So wurden bereits über 10.000 Unterschriften aus der ganzen Schweiz sowie aus Deutschland und Österreich gesammelt, um diese Maßnahme zu verhindern.
„Wir wissen nicht, was jetzt passiert“, sagt Wolf-Experte David Gerke (31). „Ich weiß nur, dass dies die falsche Entscheidung wäre. Mit der Reduzierung des Rudels ist das Problem nicht gelöst. Auch die übrig gebliebenen Tiere werden in den Siedlungsgebieten auftauchen, eine Verhaltensänderung der Wölfe wird so nicht gelingen“, sagt jener Mann, der sich nach eigenen Angaben schon 20 Jahre intensiv mit Wölfen beschäftigt und davon überzeugt ist, dass noch nicht alle nicht tödlichen Maßnahmen ausgeschöpft wurden. „Zuerst müssten wirklich alle Futterquellen in der Nähe von Siedlungsgebieten entfernt werden. Das ist bisher noch nicht geschehen.“ Unterstützt wird die Unterschriftenaktion auch vom Schweizerischen Bund für Naturschutz Pro Natura, aber auch vom World Wildlife Fund (WWF).
Jungwölfe wandern
Laut Gerke haben die Wölfe vom Calanda-Tal gelernt, sich mit den Menschen zu arrangieren. „Sie haben nicht mehr immer panische Angst, wenn sie Menschen sehen, und laufen daher auch nicht mehr sofort weg.“ Der Naturwissenschafter beobachtet die Wölfe seit deren Rückkehr in die Schweiz. 2011 haben sich im Calanda-Tal ein Männchen und ein Weibchen gepaart, was zur Bildung des Rudels führte. Das Wolfspärchen hat seitdem bereits zum vierten Mal für Nachwuchs gesorgt. Die Jungwölfe bleiben ein bis zwei Jahre bei ihren Eltern. Danach entfernen sie sich zumeist vom Rudel.
„Derzeit haben wir im Calanda-Tal die Elterntiere mit vier Jungen. Darüber hinaus sind noch vier weitere Jungtiere beim Rudel. Das heißt, die gesamte Gruppe besteht aus zehn Tieren. Das ist ungewöhnlich viel“, hält Dominik Thiel fest.
Wölfe in Vorarlberg
In ihrer Beurteilung des Wanderverhaltens der Wölfe sind sich Abschussbefürworter Thiel und Abschussgegner Gerke einig. „Die Jungwölfe, vor allem die männlichen, ziehen weg und wandern in andere Gegenden“, erklärt David Gerke. „Es werden auch nach Vorarlberg bald mehr Wölfe kommen“, prognostiziert der Präsident der „Gruppe Wolf Schweiz“. Es sei auch jederzeit möglich, dass es zur Bildung eines Rudels kommt. „Wann und wo das passiert, lässt sich nie voraussagen. Daher kann das selbstverständlich auch in Vorarlberg geschehen.“
In den letzten zwei Jahren traten wandernde Wölfe in Vorarlberg zwei Mal unangenehm in Erscheinung. Im Sommer 2014 riss in Schönenbach ein Wolf zwei Schafe, ein Jahr später tötete ein anderer Meister Isegrim im Klostertal gleich 20 Schafe. Seither stehen die Wölfe auch bei uns unter genauer Beobachtung.
Wo Wölfe ein Rudel bilden, lässt sich nicht voraussagen.
Wolf-Experte David Gerke

Wölfe als Teil unserer Kulturlandschaft: Der Mensch wird damit leben lernen müssen. Foto: dpa