Multikulti im Gasthof Löwen

Im Harder Löwen wohnen 80 Flüchtlinge, mit 80 Schicksalen und Lebensweisen.
Hard. Ein Knall. Scheiben bersten. Raus aus dem Haus! Montagabend, 22.45 Uhr. 80 Menschen rennen aus dem ehemaligen Gasthof Löwen in Hard. Aufgescheucht durch ein Geräusch, das den meisten allzu bekannt vorkommt. Männer, Frauen und Kinder, die aus Kriegsgebieten flohen, wurden durch einen Knall schlagartig zurück in die Vergangenheit versetzt. Der Gasthof im Zentrum von Hard ist seit Oktober 2015 ein Quartier für Flüchtlinge. Es sind Menschen aus Syrien, aus Bangladesh, aus Afghanistan, Nigeria, Somalia – aus vielen Regionen der Welt, die versuchen, im 13.000-Einwohner-Dorf Hard ein neues Leben zu beginnen.
Es ist Freitag, eine Woche vor dem Anschlag. Dort, wo sich früher alteingesessene Harder am Stammtisch die neuesten Gerüchte um die Ohren hauten, steht ein Billardtisch. „Gespendet“, erklärt Petra Gebhard (43) vom Roten Kreuz. Sie leitet das Quartier – das einzige Flüchtlingsheim im Land, das vom Roten Kreuz betreut wird. Die weiße Theke mit blauem Rahmen steht noch da, auch die Bodenfliesen stammen aus der Gasthauszeit. Braune Fliesen, alt, aber nicht aus der Kategorie: Nostalgiegefühle weckend. Vier Männer stehen um den Tisch und spielen. Zwei aus Somalia, ein Syrer, ein Nigerianer; Interkulturelle Verständigung am grünen Tisch.
Kochen, wo gefeiert wurde
Wenn Politiker über „die Flüchtlinge“ reden, sprechen sie über eine homogene, allgemeine Menge. Sie differenzieren höchstens zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen. Manch einer will diesen Unterschied schon an der Grenze erkennen können. Eine Reise durch den Löwen zeigt: Es gibt keine Homogenität. In den drei Stockwerken leben Menschen aus rund zehn Nationen. Die meisten sind am 17. Oktober eingezogen, nachdem sie zusammen mit freiwilligen Helfern und Handwerkern das Gebäude bezugsfertig gemacht haben. Stolz führt Hards Bürgermeister Harald Köhlmeier (43) durch die Räume. „Hier haben in den 80er-Jahren noch Bälle stattgefunden“, erzählt er und präsentiert mit einer ausholenden Handbewegung den ehemaligen Veranstaltungssaal.
An der Wand hängen selbst gemalte Länderflaggen, Österreich, Syrien, Irak. Spielzeug liegt in einem Eck. Links vorne die Essecke, auf der rechten Seite stehen fünf Kochinseln. Es wirkt wie das Set einer TV-Kochshow, ist aber reales Leben: Die Bewohner teilen sich die Inseln, jeweils mit Herdplatte, Kühlschrank und Geschirr. „Wir haben im Oktober auf Selbstversorgung umgestellt. Das war die beste Entscheidung“, schildert Petra Gebhard.
Wie zu Hause
Einmal kam die Unterkunft in negative Schlagzeilen. Eine Gruppe Afghanen wollte sich nicht an den Putzplan halten. „Die waren etwas schwierig. Sind aber dann gleich rausgeflogen und nach Dornbirn in das Großquartier gekommen“, erzählt Gebhard. Seitdem ist Ruhe. Das Zusammenleben funktioniert trotz unterschiedlicher Lebensweisen. Im dritten Stock lebt eine Familie aus Syrien. Vater, Mutter und zwei Kinder. Das Zimmer: Zwölf Quadratmeter groß, Schaumstoff-Blumen an der Wand, Teppichboden, kaum Möbel. Absichtlich. Sie essen auf dem Boden: „Wie zu Hause“, erklärt Familienvater Nuri. Zwei Türen weiter leben zwei Schwestern mit zwei Kindern, sie kommen aus Bangladesh. Stockbett, Wandschmuck, die Frauen in weiten bunten Kleidern: zehn Meter liegen zwischen den zwei Familien, kulturell sind es Welten.
80 Menschen, 80 Schicksale. Da wäre zum Beispiel die syrische Mehrgenerationenfamilie im Erdgeschoß. Die Oma ist 78 und im Rollstuhl, der Jüngste ist neun Jahre alt. „Sie sind mit der Oma geflüchtet, haben sie teilweise auf dem Rücken getragen. Der Sohn war in der Türkei im Gefängnis, er ist schwer traumatisiert.“ Da wäre ein Mann aus Nigeria, dessen Asylantrag schon zweimal abgelehnt wurde und nun mit Hilfe eines Anwalts die Instanzen durchgeht. „Sein Vater wollte ihn aus religiösen Gründen opfern. Seine zwei Brüder sind bereits geopfert worden. Jetzt muss er vielleicht zurück nach Nigeria“, erzählt Gebhard.
Großer Rückhalt
Sie ist mittlerweile Hauptberuflich Flüchtlingsbetreuerin in Hard. Das Rote Kreuz ist mit vier Betreuern und einem anerkannten Flüchtling vor Ort, dazu kommen jede Menge Freiwillige. Die Weihnachtszeit sei besonders anstrengend gewesen. Denn die gute Behandlung habe sich herumgesprochen, rund 20 selbst angereiste Flüchtlinge seien im Dezember plötzlich vor der Türe gestanden.
Im Erdgeschoß sind mittlerweile zwei Damen eingetroffen, sie unterrichten ehrenamtlich: „Hussein ist letztes Mal nicht zum Deutschkurs gekommen“, erzählen sie Petra Gebhard. Sie wird ihn fragen. Die Hilfsbereitschaft in Hard sei groß. Auch nach dem Anschlag am Montag. „Die Stimmung ist gedämpft, aber es wird wieder“, erklärt Gebhard und gibt sich kämpferisch: „Wir erklären den Flüchtlingen, dass sie viele Freunde in der Gemeinde haben. Wir lassen uns nicht einschüchtern.“


Betreuung im Land
» In Vorarlberg leben derzeit rund 3600 Asylwerber in Quartieren über das ganze Land verteilt. Die meisten Quartiere betreut die Caritas. In Dornbirn, Götzis und Feldkirch hat zudem die private Firma ORS jeweils ein Großquartier zu betreuen. Das Rote Kreuz ist derzeit nur in Hard aktiv.
» Das Rote Kreuz trat als Betreuer in der aktuellen Situation erstmals zu Weihnachten 2014 in Szene, als kurzfristig kleine Quartiere eingerichtet wurden. Mitte 2015 eröffnete das Rote Kreuz für wenige Wochen ein Quartier in der Messehalle Dornbirn. In Hard übernahmen die Sanitäter die Schulsporthalle und zogen später mit den Flüchtlingen in den Löwen.