Kein Geld bei mangelnder Solidarität
Wenn Ungarn keine Flüchtlinge nimmt, soll die EU Förderungen kürzen, fordert Waigel.
Bregenz. Der ehemalige CSU-Vorsitzende Theo Waigel war neun Jahre lang deutscher Finanzminister. In seine Zeit fällt die Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa. Kürzlich war der Namensgeber des Euro in Bregenz und nahm sich Zeit für ein ausführliches VN-Interview. Er sprach über die aktuelle Situation, fehlende Investitionen, zerrissene Briten und gesteht: „An den EU-Beitritt der Türkei habe ich noch nie geglaubt.“
Wie geht es einem glühenden Europäer, wenn er die aktuelle Situation der EU betrachtet?
Waigel: Es ist nicht die erste Krise, die ich erlebe. Ende der 70er-Jahre sprach man von Eurosklerose, also dass Europa krank sei. Wir hatten in den 70er- und 80er-Jahren über 20 Realignments (Währungsabwertungen, Anm.), jedes Mal kam es zu gravierenden Problemen in den abwertenden Ländern. Heute ist Europa wiedervereinigt. Länder, die vor 30 Jahren noch unter Diktaturen geächzt haben, sind freie Staaten, die EU ist die zweitwichtigste Wirtschaft der Welt. Das heißt aber nicht, dass wir nicht alles daran setzen müssen, die Gemeinschaft wieder zu stabilisieren.
Wie soll das gelingen?
Waigel: Jetzt sind nicht die großen Visionen gefragt. Wir müssen die Einhaltung von Verträgen garantieren, etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun, mehr Investitionen tätigen und die Wettbewerbsfähigkeit stärken.
Ist der Juncker-Plan das richtige Instrument dazu?
Waigel: Ich glaube schon. Ich bin durchaus für eine Verlängerung. Deutschland steht ökonomisch gut da, die Nettoinvestitionen sind aber zu gering. Es bräuchte sowohl im Infrastrukturbereich als auch in der Industrie mehr Investitionen. Die Nettoinvestitionsquote war vor 20, 25 Jahren höher.
Sie haben das Flüchtlingsthema gar nicht genannt.
Waigel: Das ist natürlich eine große Herausforderung. Hier gilt es, die Außengrenzen zu sichern, damit wir die Binnenöffnung erhalten können. Außerdem muss den Ländern, die am meisten belastet sind, geholfen werden. Es kann nicht sein, dass in Polen oder Ungarn kein einziger Flüchtling aufgenommen wird. Bleibt das so, muss das bei der nächsten finanziellen Vorausschau eine Rolle spielen. Polen erhält jedes Jahr elf Milliarden Euro aus der EU-Kasse, Ungarn über fünf.
Solidarität soll an finanzielle Bedingungen geknüpft werden?
Waigel: Ja. Auch finanzielle Leistungen sind ein Ausdruck von Solidarität.
Wie soll die EU mit Staatschefs wie Viktor Orban und Jarosław Kaczynski umgehen?
Waigel: Die Herren entsprechen nicht meiner Idealvorstellung von Politik. Trotzdem sind mir beide lieber als die Herrschaften, die dort noch vor 30 Jahren am Ruder waren.
Aussagen österreichischer Politiker zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben kürzlich EU-weit irritiert. Wie beurteilen Sie das?
Waigel: Politiker stehen unter Druck. Es entstehen populistische Bewegungen, die den traditionellen Volksparteien erhebliche Probleme bereiten, in Österreich schon länger. In diesem Lichte muss man manche Aktionen sehen. An den EU-Beitritt der Türkei habe ich noch nie geglaubt. Wir brauchen engste Beziehungen, sei es ökonomisch, politisch oder bei der Verteidigung. Aber weder für die Türkei noch für die EU ist ein Beitritt das Richtige.
Wie beurteilen Sie das, als ehemaliger Profidiplomat . . .
Waigel: … (lacht). Ich war kein Diplomat. Finanzminister haben nicht den Ruf, diplomatisch zu sein. Aber vielleicht mussten wir manchmal mehr Diplomatie aufbringen als die Außenminister.
Inwiefern?
Waigel: Die Finanzverhandlungen waren schwieriger. Wir haben die Verhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion dennoch erfolgreich geführt. Während die Außenminister die politische Union nicht zuwege gebracht haben.
Warum lehnen in Österreich und Deutschland so viele Menschen die Freihandelsabkommen ab?
Waigel: Die Menschen wurden viel zu lange nicht richtig informiert. Man hätte von Beginn an über Chancen und Risiken aufklären sollen und den aktuellen Stand berichten.
Werden Ceta und TTIP kommen?
Waigel: Es wird schwer, dass es in absehbarer Zeit zu einer Einigung kommt. Aber damit erweisen wir uns keinen guten Dienst. Unser Exportüberschuss beruht auf solchen Abkommen.
Wir haben immer noch nicht über den Brexit gesprochen.
Waigel: Großbritannien war immer schon ein Antagonismus. Nachdem Churchill als Premierminister abgewählt wurde, befürwortete er, dass sich Großbritannien der europäischen Initiative anschließt. Als er fünf Jahre später wieder Premierminister war, nicht mehr. Der Brexit ist eine Tragik, 70 Prozent der jungen Menschen waren für einen Verbleib.
Wie haben Sie Großbritannien erlebt?
Waigel: Ich habe britische Politiker wie John Major und Tony Blair kennengelernt, die sogar bereit gewesen wären, der Wirtschafts- und Währungsunion beizutreten. Margaret Thatcher war eine erbitterte Gegnerin. Übrigens, als Blair sagte „Wir wollen nicht in die Eurozone, aber darüber mitbestimmen“, hat der damalige französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn geantwortet: „Wenn man im Schlafzimmer ist, will man keinen Dritten dabei haben.“ Entweder man ist dabei oder draußen (lacht).
Hat der Euro einen Konstruktionsfehler?
Waigel: Der Euro ist heute stärker als die D-Mark war. Er ist die zweitstärkste Währung der Welt, 18 Länder haben ihn eingeführt, und von den vier Krisenländern haben drei aus der Krise gefunden. Die Finanzkrise 2008 ist nicht durch die Währung entstanden. Zeigen Sie mir jemanden, der aus dem Euro raus will und sich davon Vorteile versprechen würde. Die Zinsen würden auf einen Schlag ansteigen, wir hätten eine plötzliche Aufwertung von 20 Prozent. Der Euro hat keinen Konstruktionsfehler, aber einen Erziehungsfehler.
Wer wurde falsch erzogen?
Waigel: Griechenland hätte nie reingehört. Man hätte den Stabilitätspakt einhalten und die Wirtschaften stärker aufeinander abstimmen müssen.
War die Austeritätspolitik der richtige Weg?
Waigel: Man kann Schulden nicht mit Schulden bekämpfen. Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Prinzip der Umweltpolitik, sondern auch der Finanzpolitik.
Griechenland hat das Sparprogramm nicht geholfen.
Waigel: Griechenland war bis Ende 2014 auf einem guten Weg und hatte sogar einen Primärüberschuss erwirtschaftet. Dann kamen Varoufakis und Tsipras und haben alles kaputt gemacht, was zuvor in zwei, drei Jahren mühsam aufgebaut wurde. Und jetzt muss Tsipras alles einhalten, gegen das er vorher polemisiert hat.