“Kinder können ihre Psyche nicht mehr entfalten”

Vorarlberg / 03.10.2017 • 19:14 Uhr
Dr. Michael Winterhoff vertritt interessante Thesen.  Stiplovsek
Dr. Michael Winterhoff vertritt interessante Thesen.  Stiplovsek

Kinderpsychiater Michael Winterhoff fordert Umdenken im Umgang mit Kindern.

Schwarzach In Lustenau hielt der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff einen Vortrag zum Thema: „Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen.“

Davor war der Experte bei den VN zu Gast, um seine Erkenntnisse über die Entwicklung von Kindern darzulegen. Winterhoff ist davon überzeugt, dass Kinder nicht mehr so aufwachsen können wie noch in den 90er-Jahren, und es dadurch schwerer haben. „Kinder haben heute oft keine Chance mehr, ihre Psyche zu entwickeln und diese zu entfalten“, ist der Rheinländer überzeugt.

Dass es den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft heutzutage schlechter geht, ist laut Winterhoff offensichtlich: „In Deutschland hat zum Beispiel jeder zweite Schulabgänger schon große Probleme, in den Arbeitsprozess zu gelangen. Diesen jungen Menschen fehlen die sogenannten soft skills: Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen. Das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht. Über all das, was sie gelernt haben, können sie nicht mehr angemessen verfügen.“

Die Intuition

Diese Phänomene seien, so Winterhoff, zum ersten Mal ab 1990 aufgetreten und dann ab dem Jahr 2000 sehr gravierend geworden. Seine Generation sei in einer Zeit groß geworden, in welcher sich die Psyche wie von alleine gebildet habe.

Was eine stabile Psyche ausmacht? „Sie kann sich trotz eigener Befindlichkeit auf das Gegenüber einstellen. Diese Stabilität erhielt man früher im Rahmen einer ungestörten psychischen Reifeentwicklung.“

Psyche entwickle sich nicht durch Erziehung. Und doch spielten die Erwachsenen bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Sie seien diejenigen, welche die Zusammenhänge erkennen müssten, deren Psyche entscheide über die Entwicklung des Kindes. „Leider sind viele Erwachsene nicht mehr Kapitän über ihre Psyche. Das sind sie nämlich nur, wenn sie überlegt handeln, in sich ruhen können, abgegrenzt sind, agieren statt reagieren und sich auf ihre Intuition im Umgang mit Kindern verlassen können.“ Die Intuition ist für Winterhoff überhaupt der Schlüssel für den richtigen Umgang mit Kindern. „Wenn wir über die Intuition verfügen, können wir alles richtig machen.“

Halt, Orientierung

Kinder könne man nicht als kleine Erwachsene sehen. Kinder bräuchten Halt und Orientierung, die ihnen nur Erwachsene geben können. Und auch wenn Winterhoff nicht über Erziehung sprechen möchte, so glaubt er doch daran, dass die Großen den Kleinen klare Handlungsrichtlinien vorgeben sollten. „Das können sie jedoch nur, wenn sie selber eine aufgeräumte Psyche haben“, betont der Psychiater. Aber genau darin liege heute oft das Problem. Erwachsene würden von der digitalen Welt überrollt und gönnten daher ihrer Psyche nicht mehr die benötigten Pausen. „Entweder wir schaffen es, mit der digitalen Welt umzugehen, oder die digitale Welt schafft uns.“ Viel zu schnell sei diese Welt auf die Menschen hereingebrochen, um sich darauf richtig einzustellen. Auszeit, Muße und Langweile seien daher plötzlich verschwunden – mit negativen Folgen für Erwachsene und Kinder.

Die Psyche brauche Pausen, um sich wieder zu regenerieren. Die beste Pause ist nach Meinung von Winterhoff ein Waldspaziergang. „Und das ohne Handy, ohne Begleiter und ohne Hund. Wer fünf Stunden durch den Wald geht, kommt als anderer Mensch zurück“, ist Winterhoff überzeugt.

Und wer Kindern etwas Gutes tun wolle, der möge ebenfalls mit ihnen im Wald spazieren gehen.

Zur Person

Dr. Michael Winterhoff

Dr. Michael Winterhoff ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Seit 1988 arbeitet er in Bonn als Facharzt für Kinder-und Jugendpsychiatrie in seiner eigenen Praxis. Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes-und Jugendalter. Winterhoff hat mehrere Bücher über die kindliche Psyche geschrieben. Dazu zählen „Warum unsere Kinder Tyrannen werden?“ oder „Die Abschaffung der Kindheit“. Kritiker werfen ihm vor, mit seinen Thesen ein kaltes Erziehungsklima zu fördern, das auf Gehorsam fußt.

Michael Winterhoff ist 62 Jahre alt.