“Notenwahrheit gibt es nicht”

Vorarlberg / 27.05.2018 • 19:41 Uhr
Wirtschaftskammerdirektor und -bildungssprecher Christoph Jenny will Lehrerinnen und Lehrer mit richtiger Haltung und einer modernen Pädagogik.VN/Steurer
Wirtschaftskammerdirektor und -bildungssprecher Christoph Jenny will Lehrerinnen und Lehrer mit richtiger Haltung und einer modernen Pädagogik.VN/Steurer

Partnerschaft zwischen Schule und Wirtschaft ist für beide Seiten gut, meint Jenny.

Feldkirch Gedämpft, aber doch, äußert der Bildungssprecher der Vorarlberger Wirtschaftskammer Kritik an einigen Bildungsmaßnahmen der Bundesregierung, ortet aber auch positive Ansätze.

 

Sehen Sie die Bildungsvorhaben der Regierung insgesamt mehr positiv oder negativ?

Jenny Das Regierungsprogramm enthält eine ganze Reihe positiver Ansätze. Viel wichtiger wird aber die konkrete Umsetzung und was von den einzelnen Vorhaben letztlich auch in den Schulen ankommt.

 

Welche Punkte gefallen Ihnen?

Jenny Der geplante stärkere Ausbau von Ganztagsangeboten und die Stärkung bzw. Optimierung der Frühpädagogik sind aus meiner Sicht zwei wesentliche Aspekte, um die Bildungserfolge unserer Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Auch der Ausbau der Bildungsstandards und der Fokus auf die Schnittstellen zwischen den einzelnen Schultypen sind richtige und wichtige Ansätze, ebenso die im Zusammenhang mit der Lehrlingsausbildung vorgesehenen Maßnahmen.

 

Welche Punkte gefallen Ihnen nicht?

Jenny Der Glaube an eine Notenwahrheit, die es nicht gibt, und die damit begründete künftig wieder wesentlich stärkere Bedeutung der Ziffernnoten wären wohl als Rückschritt zu sehen. Verbalbeurteilungen oder Leistungsentwicklungsberichte haben, wenn sie gut gemacht werden, eine wesentlich höhere Aussagekraft und sollten daher künftig eigentlich eine wichtigere Rolle spielen.

Thema separate Deutschklassen: Begrüßen Sie diese Maßnahme?

Jenny Entsprechende Deutschkenntnisse sind die Voraussetzung für eine gelingende Bildung. Der Grundstein dafür muss aber schon in der Frühpädagogik gelegt werden. Gelingen in diesem Bereich entscheidende Akzente, dann braucht es in einer modernen Pädagogik eigene Deutsch-Förderklassen hoffentlich gar nicht.

 

Die gemeinsame Schule, im Vorarlberger Schulforschungsprojekt mit Wohlwollen der Wirtschaftskammer gefordert, ist in weite Ferne gerückt: ein Rückschlag?

Jenny Die gemeinsame Schule könnte zumindest zwei Vorteile für sich in Anspruch nehmen: eine höhere Chancengleichheit und den Wegfall der frühen Selektion nach der vierten Schulstufe, die so nicht wirklich funktioniert. Als Wirtschaftskammer haben wir uns an der Struktur- und Türschilddiskussion aber nie beteiligt. Ein System allein, egal welches, garantiert per se noch keine gute Schule. Viel entscheidender ist die Entwicklung von Schulen, in denen Lehrerinnen und Lehrer mit der richtigen Haltung und einer modernen Pädagogik die Potenziale der Schülerinnen und Schüler in Zukunft noch besser fördern werden.

 

Die Wirtschaft in Vorarlberg braucht mehr Fachkräfte. Ist die
Bildungspolitik der Bundesregierung geeignet, solche Fachkräfte künftig in größerer Zahl zu bekommen?

Jenny Fachkräfte werden in Schulen, in den Ausbildungsbetrieben und in anderen Bildungseinrichtungen entwickelt, wenn der Einzelne das will. Wenn die Umsetzung des Regierungsprogramms letztlich zu besseren Bildungserfolgen führt, wird sich das positiv auf die Zahl der Fachkräfte auswirken.

 

Wie beurteilen Sie die Zentral­matura?

Jenny Nach einigen Jahren Erfahrungen mit der Zentralmatura überwiegen aus meiner Sicht die Vorteile: Die Prüfungen sind objektivierbar, es gilt vom Bodensee bis zum Neusiedlersee ein einheitlicher Bildungsstandard, die Leistungen in den einzelnen Schulen sind vergleichbarer. Die anfänglichen Probleme in der Abwicklung scheinen überwunden und die Ängste, die mit Veränderungen immer v­erbunden sind, scheinen verflogen. Jetzt ist es Zeit für eine Evaluierung.

 

Wie gehen Sie mit Vorwürfen um, die Wirtschaft nehme zu viel Einfluss auf die Schulen?

Jenny Die wichtigste Aufgabe von Schule ist es doch, junge Menschen auf das spätere Leben und damit auch auf das Berufsleben vorzubereiten. Über die Jahre sind vielfältige Kooperationen zwischen Schule und Wirtschaft entstanden. Davon sollten letztlich beide Seiten profitieren.

„Ein Vorteil der gemeinsamen Schule wäre mehr Chancengleichheit.“