Doris Knecht

Kommentar

Doris Knecht

Die traurige Geschichte von Julius Lott

Vorarlberg / 25.03.2019 • 11:59 Uhr

Als ich noch ein Kind war, habe ich viel über die traurige Geschichte von der Planung des Arlbergtunnels nachgedacht. Ich weiß nicht einmal mehr, wer mir die Geschichte erzählt hat, oder wie alt ich war, als ich sie zum ersten Mal gehört habe, aber es kommt mir vor, als hätte die Geschichte mich durch meine Kindheit begleitet. Sie handelte von dem Baumeister, der den Arlberg-Bahntunnel plante, und sie hat mich als Kind sehr beschäftigt, weil sie so traurig ist, so trostlos. Sie geht so, dass der Baumeister den Tunnelverlauf plante, von zwei Seiten her kommend: von der Tiroler Seite und von der Vorarlberger Seite. Er habe das monatelang immer wieder berechnet, dann fing das Bohren und Graben durch den Berg von beiden Seiten an und dauerte Jahr um Jahr. Dann plötzlich sei sich der Baumeister nicht mehr sicher gewesen sei, dass die beiden Tunnelröhren aufeinander treffen würden. Der Gedanke, dass er sich verrechnet hatte, habe in seinem Kopf gekeimt und gewuchert, bis der Baumeister schließlich nicht mehr sicher gewesen sei, ob die beiden Röhren sich treffen würden: ob die Planung vielleicht fehlerhaft und die jahrelange Schufterei all dieser Arbeiter vergebens gewesen sei, ob all das Geld, das in dieses gigantische Projekt investiert worden, möglicherweise verschwendet war. In den Wochen und Tagen vor dem Durchstich sei der Baumeister dann zusehends überzeugt gewesen, dass er den Verlauf der Röhren völlig falsch berechnet habe, dass die Röhren aneinander vorbeischlängeln würden, wie blinde, taube Würmer, die einander suchen und nicht finden. Der Architekt sei darüber in Trübsaal verfallen, habe mit dieser Schande, dieser Schuld nicht vor der ganzen Welt vorgeführt werden wollen und sich deshalb in der Nacht vor dem geplanten Durchstich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Und er habe nicht mehr erlebt, wie sich am nächsten Tag all seine Befürchtungen als völlig haltlos erwiesen, weil der Durchstich pünktlich und punktgenau erfolgte. So eine tragische Geschichte.

„Ich weiß nicht einmal mehr, wer mir die Geschichte erzählt hat, oder wie alt ich war, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.“

Sie fiel mir wieder ein, als ich anfing, über mein letztes Buch nachzudenken, ich weiß gar nicht genau, warum. Ich dachte, damit könnte man vielleicht etwas machen. Ich fing an zu recherchieren: Der Mann hieß Julius Lott, er war Baubeamter, später Baudirektor der Arlbergbahn, und er starb am 23. März 1883, acht Monate vor dem Durchstich des Tunnels, an Tuberkulose. Er dürfte nie daran gezweifelt haben, dass die Röhren sich treffen. Sie hat gar nicht gestimmt, die traurige Geschichte, mit der ich aufgewachsen bin.

Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel. Ihr neuer Roman „weg“ (Rowohlt Berlin) ist eben erschienen. Am 3. April liest sie daraus im Landestheater Vorarlberg.