Nicola Werdenigg erzählt über ihr Leben nach dem Missbrauchs-Outing

Vorarlberg / 06.04.2019 • 09:00 Uhr
Nicola Werdenigg hat ihre Lebensaufgabe gefunden. Sie kämpft leidenschaftlich gegen Machtmissbrauch im Sport.VN/Steurer
Nicola Werdenigg hat ihre Lebensaufgabe gefunden. Sie kämpft leidenschaftlich gegen Machtmissbrauch im Sport.VN/Steurer

Die Ex-Skiläuferin hat sich ganz der Bewusstmachung und dem Kampf gegen Machtmissbrauch im Sport verschrieben.

Dornbirn „Mir geht’s gut.“ Nicola Werdenigg (60) braucht bei der Frage nach ihrer Befindlichkeit nicht lange nachzudenken. „Weil narrisch viel weitergeht. Leider Gottes muss das durch Anlassfälle geschehen, die nicht sehr erfreulich sind. Aber es finden viele den Mut zu reden, zusammenzustehen und etwas zu tun.“ Seit die gebürtige Zillertalerin vor circa eineinhalb Jahren an die Öffentlichkeit ging, um von ihrer Vergewaltigung durch ÖSV-Teamkollegen im Speziellen und von den Missbrauchspraktiken im Allgemeinen in den 1970er-Jahren zu berichten, ist sie eine Celebrity der besonderen Art. Sie ist jene, die die vermeintlich heile Welt des Skizirkurs von damals sprengte, die Idole entzauberte und Institutionen wie den Österreichischen Skiverband in seinen Grundfesten erschütterte. Auf der Messe in Dornbirn stellte sie ihr Buch „Ski, Macht, Spiele“ vor.

Ein Fulltimejob

Nicola Werdenigg ist, ob sie will oder nicht, zu einer Missionarin geworden, zu einer leidenschaftlichen Kämpferin gegen Missbrauch in jeglicher Form, gefeiert von vielen, aber auch argwöhnisch beäugt von anderen. Mit den negativen Reaktionen auf ihre Aktivitäten kann sie gut leben. „Ich weiß, wie ich damit umgehen muss. Viel mehr freut mich der riesige Zuspruch, den ich erhalte. Am wichtigsten ist mir der Rückhalt meiner Familie, meiner drei Kinder, meiner Freunde.“

Mehr als eine normale Wochenarbeitszeit bringe sie für ihre Agenda auf. Das Aufklären, Bewusstmachen und Vernetzen im Sinne ihrer Mission ist zur Lebensaufgabe der nunmehrigen Wienerin geworden. Dafür hat sie auch ihren Beruf aufgegeben. „Ich hatte eine Firma, die Onlinekommunikation und Webdesign anbot. Vorigen Sommer beschloss ich, in Pension zu gehen. Als meine Aktivitäten in dieser Sache zu aufwendig wurden und ich Aufträge nicht mehr abwickeln konnte, habe ich diesen Schritt gesetzt. Jetzt bin ich frei.“

Keine Rachegelüste

Die ehemalige Spitzenläuferin im Weltcup will sich durch ihr Engagement nicht als Rächerin aufspielen. „Ich möchte niemanden an den Pranger stellen. Ich verstehe auch viele Reaktionen.“ Rückgängig machen würde sie freilich nichts von dem wollen, was sie getan, und schon gar nicht von dem, was sie ausgelöst hat. „Ich gefalle mir in dieser Rolle. Ich fühle mich sehr wohl“, sagt sie mit Bestimmtheit.

Das Leben hat sich für die 60-jährige seit ihrem Outing fundamental verändert. In den Medien wird sie herumgereicht, sie gründete die Gruppe „We together“ und unterstützt Initiativen wie „100 Prozent Sport“.

Es ist, als ob sie durch ihre Aktivitäten eine neue Identität bekommen hätte. Oder doch nicht? „Ich lasse mich nicht vollends von dem verschlucken, was ich vertrete. Ich habe viele Dinge, die ich gerne mache.“ Werdenigg erzählt von ihrer Sucht fürs Lesen, von ihrer nach wie vor vorhandenen Liebe zum Skifahren und von ihrer Enkelin. „Wenn ich mit der unterwegs bin, dann schalte ich total ab. Dann berührt mich das alles überhaupt nicht.“

Klar. Nicola Werdenigg hat durch ihr Outing neue Welten betreten. „Ich habe neue Freundinnen und Freunde gewonnen.“ Alte Freundschaften wurden auf die Probe gestellt. Aus Mayerhofen im Zillertal, von dort, wo Nicola als Tochter der Ski-Legende Erika Mahringer, herkommt, weiß sie eine bemerkenswerte Geschichte zu erzählen. „Es haben dort nach meinem Outing auch viele die Nase gerümpft. Als dann aber die Geschichten vom Skiinternat Neustift ruchbar wurden, habe ich aus dem Zillertal viel Zuspruch erhalten. Und das auch von Männern, die als Machos galten. Das hat mich sehr gefreut.“

Begegnung mit Moser-Pröll

Nicola Werdenigg würde sich gerne auch mit jenen auseinandersetzen, die ihr jetzt nicht gut gesinnt sind. Es fällt der Name Annemarie Moser-Pröll, der Jahrhundertsportlerin, die nichts von den Missbrauchsfällen im ÖSV gewusst haben will. „Es wäre natürlich schön, sich vorbehaltlos an einen Tisch zu setzen und zu reden. Die Annemarie hat mir nichts getan, und ich ihr nichts. Ich kann sie ja auch verstehen.“ In Bludenz, im Rahmen des Prozesses von Charly Kahr gegen eine Vorarlberger Ex-Skiläuferin, traf man sich zufällig im selben Quartier. „Ich trat an Annemaries Tisch und grüßte sie und ihre Begleiter.  Zum Reden kam es damals nicht. Noch nicht. „Das war wohl auch nicht der richtige Moment.“ 

Das Lachen hat die in Wien lebende gebürtige Zillertalerin trotz des ernsten Themas nicht verlernt. Vor allem ihre Enkelin macht sie glücklich.VN/Steurer
Das Lachen hat die in Wien lebende gebürtige Zillertalerin trotz des ernsten Themas nicht verlernt. Vor allem ihre Enkelin macht sie glücklich.VN/Steurer