Herumgemosert: Die schwere Geburt der Seuchenbekämpfung

Wenn Seuchen ausbrechen oder auszubrechen drohen, muss ein Staat in der Lage sein, rigide Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu treffen. Damit er das auch rechtmäßig tun kann, braucht es gesetzliche Grundlagen. In Österreich finden sich diese im Epidemiegesetz 1950. Es erlaubt unter anderem, erkrankte oder krankheitsverdächtige Menschen auch gegen ihren Willen abzusondern. Das Epidemiegesetz ist älter als sein Name vermuten lässt. Es wurde 1950 nur wiederverlautbart, also neu durchnummeriert und umbenannt. Der Großteil des Inhalts stammt allerdings aus dem Jahr 1913. Die damals tobenden Balkankriege erhöhten die Angst vor Seuchenausbrüchen. Das Gesetz war dennoch umstritten.
Als es im Juli 1912 im Abgeordnetenhaus des Reichsrates beschlossen werden sollte – das Herrenhaus hatte es bereits zweimal gebilligt – kam es zu Tumulten. Der Führer der Sozialdemokratie, Viktor Adler, hatte am 4. Juli den Antrag gestellt, das Gesetz am nächsten Tag zu verhandeln. Dieser wurde knapp angenommen. Allerdings stimmten die ruthenischen, also ukrainischen Abgeordneten dagegen, was einen polnischen Abgeordneten zu wüsten Beschimpfungen veranlasste. Eine Schlägerei konnte im Reichsrat nur mit Müh und Not verhindert werden. Das Epidemiegesetz wurde am folgenden Tag trotzdem nicht verhandelt, es ging in einer Debatte über Wahlfälschungen unter. Als es wieder von der Tagesordnung genommen wurde, wankte der wilde Abgeordnete und ehemalige Sozialdemokrat Simon Starck „offensichtlich schwer betrunken“ zum Podium, wie die Arbeiterzeitung schrieb, wo er „einen pathologischen Tobsuchtsanfall“ erlitt. Das stenographische Protokoll schweigt sich darüber würdevoll aus.
Die Debatte wurde erst im Oktober 1912 wieder aufgenommen, das Gesetz wurde aber wieder nicht beschlossen. Hintergrund waren Bedenken, die vor allem mit Protesten der Naturheilbewegung zusammenhingen. Diffuse Impfgegner zogen gegen das Gesetz zu Felde. Aber auch Hausbesitzer beschwerten sich, da sie wohl befürchteten, dass ihr Besitz im Fall des Falles unter Quarantäne gestellt werden könnte. Hinter dem Gesetz stand vor allem die Sozialdemokratie. Schließlich, so schrieb die Zeitung „Arbeiterwille“ 1912, hätten „alle zivilisierten Staaten Europas und sogar die Japaner“ bereits ähnliche Gesetze. Immer wieder wurde die Verzögerung des Parlamentsbeschlusses als „Kulturschande“ bezeichnet. „Das ist wirklich nur in Österreich möglich“, schrieb der „Arbeiterwille“. Nach monatelanger Debatte wurde das Epidemiegesetz letztlich doch beschlossen und vom Kaiser im April 1913 sanktioniert. Seine Geschichte erklärt vielleicht, warum man es bis heute nicht ersetzt hat.
Moritz Moser stammt aus Feldkirch, lebt und arbeitet als Journalist in Wien. Twitter: @moser_at