Reinhold Bilgeri

Kommentar

Reinhold Bilgeri

Verwundet

Vorarlberg / 07.04.2020 • 18:00 Uhr

Frau Ammann und ich verkehren zur Zeit nur virtuell, so wie alle vernünftigen Leute, die nicht unter einem Dach wohnen. Sie durchstreift ihre Bibliothek nach klugen Büchern über menschliche Verhaltenspsychologie in pandemischen Zeiten und wirkt dabei so seltsam ruhig, fast feierlich, als trüge sie das Geläute vom Ostersonntagmorgen im Herzen.

„Siehe Trump, Johnson, Bolsonaro, auch Kickls Werte im tiefen Minus. Die Hetzer im Out.

Die Welt ist nicht verloren, sagt sie, nein. Sie ist nur verwundet, und jetzt beim Wundenlecken sieht sie klarer in die Zukunft. Viele spüren erst jetzt wie müde sie eigentlich sind, lassen sich fallen und staunen über das Ausmaß an Ruhe, das ihr Körper verlangt. Stillstand. Reset.

Humor und Kreativität

Was zeigen die Fakten? Die Erbärmlichkeit des Rechtspopulismus, der sich in wahren Krisen als Totalversager entlarvt. Siehe Trump, Johnson, Bolsonaro, auch Kickls Werte im tiefen Minus. Die Hetzer im Out.

Die Rassisten der Fußballstadien brüllen Kellerwände an. Statt dessen – Solidarität, Generationen und Grenzen übergreifend, Globalisierung wird relativ, ein neuer Wille zu mehr Autarkie und Sozialpartnerschaft, KV plus 2,7 % und Arbeitszeitverkürzung für Pflegepersonal, CO2-Ausstoß sinkt, Humor und Kreativität steigen, Heraklit hatte recht, der „Krieg“ ist der Vater aller Dinge . . .
Und nach Corona? Die Witterung der Realos: Der Mensch bleibt der Mensch. Die Chinesen warten, bis die Aktien der Großkonzerne im Keller sind und beginnen schon aufzukaufen. Der Tanz der Industrie-Lobbys wird lauter und schneller werden als zuvor.

Perspektiven

Andererseits, die FAZ hält dagegen. „Einseitig an wirtschaftlichem Wachstum orientierte Vorstellungen haben verheerende materielle, soziale und psychische Auswirkungen in Lateinamerika, Afrika und Asien, aber auch in Europa und den USA.“ Das gegenwärtige Chaos in den Staaten bestätigt diese These. Die dortige Infrastruktur steht vor dem Kollaps.

Also sollte dieser Supergau tatsächlich zum Umdenken führen? Diesmal geht’s um unser aller Gesundheit, da rücken sie zusammen, die Menschen, sagt Frau Ammann, das hat eine andere Qualität als ein Börsencrash. Also kann der Planet noch hoffen.

Wenn der Kapitalismus endgültig die Klimaschutz-Industrie als Profitzone entdecken würde, das wär doch was. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Frau Ammanns Bauch glaubt an die Schwarmintelligenz unserer Spezies, wär doch gelacht, sagt sie: wir leben nur zweimal . . .

Reinhold Bilgeri

Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.