Hanno Loewy

Kommentar

Hanno Loewy

Grenzspaziergänge

Vorarlberg / 13.05.2020 • 17:00 Uhr

Die letzten Wochen haben wir alle eine neue Form von „Schizophrenie“ kennengelernt. Wir machen uns Sorgen über Corona, und wir freuen uns über die Entschleunigung des Lebens. Wir fragen uns, was noch alles auf uns zukommt, und lernen den Augenblick schätzen. Wir arbeiten daran, eine Krise zu überstehen, und wir gehen spazieren, als wären wir gerade tiefenentspannt. Auch Corona wirft nicht alle Privilegien über den Haufen. Die einen wissen, dass ein sicherer Job auf sie wartet. Die anderen warten auf schlechte Nachrichten. Oder haben sie schon bekommen. Aber alle bewegen wir uns auf einer Grenze.

„Jetzt reden alle über Grenzöffnungen, auch die, die sonst eher von Grenzzäunen träumen. Auch das gehört zu den Corona-Paradoxien.“

Meine Frau und ich, wir haben die uns geschenkte Zeit genutzt, um das Rheintal zu Fuß und auf dem Fahrrad zu erkunden. Viele Spaziergänge und Touren an der Grenze am Alten und neuen Rhein. Statt zum Baden gehen wir jetzt einfach nur da hin, um uns immer wieder zu vergewissern , wie schön es dort ist. Um über die Spuren fleißiger Biber zu staunen. Und um immer wieder auf das rotweißgestreifte Absperrband zu stoßen, das die „Sperrzone“ zwischen Vorarlberg und der Schweiz markiert. Das in uns ganz andere Erinnerungen wachruft, an Tausende von Flüchtlingen, die hier um ihr Leben bangten. 75 Jahre ist das gerade her. Ein Jubiläum, das Corona, wie so vieles, auch auf dem Gewissen hat. Befreiungsfeiern im Internet, das ist eher ein Teil der neuen Zweideutigkeit. Dann schon lieber alleine mit Gedanken und Bildern im Kopf an der Grenze entlang spazieren. Mit dem einen Fuß auf Schweizer Gebiet, und dem anderen in Österreich. So geht das auch jetzt noch auf dem Damm inmitten des Alten Rheins, wo man sonst entscheiden muss, ob man in Österreich baden will oder in der Schweiz.

Jetzt reden alle über Grenzöffnungen, auch die, die sonst eher von Grenzzäunen träumen. Auch das gehört zu den Corona-Paradoxien. Und trotz oder wegen Corona: Sogar ein paar Dutzend Kinder aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln hat man inzwischen schon in Luxemburg und Deutschland gnädig aufgenommen. Von vielen Tausenden Menschen, die Europa dort dahinvegetieren lässt, um die Türken daran zu erinnern, sie endlich wieder „zurückzunehmen“. Großbritannien, die Schweiz und Finnland wollen nun auch noch ein paar Kinder aufnehmen, um guten Willen zu demonstrieren. Österreich denkt nicht daran. Aber wir freuen uns trotzdem auf die Schweizer und die Deutschen.

Hanno Loewy ist Direktor des ­Jüdischen Museums in Hohenems.