Trauer um Bruder mit Downsyndrom

Vorarlberg / 23.06.2020 • 12:00 Uhr
Trauer um Bruder mit Downsyndrom
Angelika Mayrhofer-Battlogg: “Ich habe meinen Bruder bedingungslos geliebt.”

Angelika Mayrhofer-Battlogg (67) trauert um ihren Bruder Wolfram, der das Downsyndrom hatte. Die Geschwister waren sich tief verbunden.

St. Anton Wolfram ging im Februar im Alter von 62 Jahren für immer. Der Bruder ist nicht mehr da. Aber die Liebe für ihn ist geblieben. In Angelikas Herz wird Wolfram immer einen Platz haben. Die Beziehung zwischen den Geschwistern war eng und innig. Das kam nicht von ungefähr. Die Eltern, die einen Tante-Emma-Laden betrieben, gaben Wolfram oft in die Obhut von Angelika, die fünf Jahre älter war als ihr behinderter Bruder. „Ich war die Zugeteilte und musste auf ihn aufpassen.“

“Die Kinder schrien: ,Verschwinde mit dem Depp.’ Das hat mir furchtbar wehgetan.”

Angelika Mayrhofer-Battlogg, Hinterbliebene

Der enorme Bewegungsdrang ihres Bruders machte es der Schwester nicht leicht. „Manchmal ist er ausgebüchst. Dann musste ich ihn suchen gehen. Meistens war er beim Bahnhof und hat mit den Steinen neben den Zuggleisen gespielt.“ Dass ihr Bruder anders ist, sagten ihr schon die Eltern. Aber das Mädchen merkte es auch an den Reaktionen seiner Mitmenschen. „Einmal besuchte ich mit Wolfram einen Spielplatz. Die Kinder, die dort waren, verjagten uns. Sie schrien: ,Verschwinde mit diesem Depp.‘ Das hat mir furchtbar wehgetan.“

Dennoch nahm Angelika ihren Bruder überallhin mit. „Ich habe mich nicht für ihn geschämt, sondern ihn immer verteidigt.“ Einmal ging sie mit ihm einkaufen. „Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieben Leute stehen und zeigten auf uns. Ich hörte, wie sie sagten: ,Dort geht ein anderer.‘ Das sind Dinge, die man nicht vergisst. Vielleicht ist deshalb die Bindung zu meinem Bruder so tief und unerschütterlich.“

“Ich dachte, dass er wegen mir anders ist”

Mehrere Jahre lang glaubte die kleine Angelika, dass ihr Bruder wegen ihr anders ist. Denn einmal fiel er ihr aus dem Stubenwagen heraus. „Ich hatte deswegen Schuldgefühle.“  Von diesen wurde sie erst befreit, als ihr Bruder Martin geboren wurde. „Ich fragte meine Mutter, warum Martin nicht so aussieht wie Wolfram. Da sagte sie zu mir: ,Martin ist gesund. Wolfram ist von Geburt an anders.‘“

In der Familie wurde der gehandicapte Bub wie ein Rohdiamant behandelt, den jeder beschützt. „Das oberste Gebot in unserer Familie war: Zuerst kommt Wolfram.“ Deshalb musste Angelika auch als Jugendliche zurückstecken. „Ich durfte nicht mit Freunden weggehen, sondern musste auf Wolfram aufpassen.“  

Mit 25 Jahren zog die Montafonerin mit ihrem Mann zunächst ins Burgenland und dann nach Baden bei Wien. In ihrem neuen Heim richtete Angelika auch eine Wohneinheit für Wolfram ein.  „Er ist oft zu mir gekommen und hat bei uns mehrere Monate gelebt.“ Später, als die Mutter alt geworden war, übernahm Angelika die Sachwalterschaft für ihren Bruder.

Wolfram selbst sah sich nicht als gehandicapt an. „Trotz seiner körperlichen und geistigen Einschränkungen meisterte er den Alltag. Er hat alles gemacht, was ihm Freude bereitete, und das mit einer unglaublichen Hingabe.“ Zum Beispiel dirigierte er für sein Leben gern. „Er brachte es sich selbst bei und dirigierte jedes Jahr das Neujahrskonzert mit. Wolfram war hochmusikalisch. Er hatte ein ungeheures Takt- und Rhythmusgefühl. Selbst Musikkenner beeindruckte er als Dirigent.“

Der oberste Sicherheitschef

Die Musik war Wolfram wichtig, aber auch die Zugehörigkeit zum örtlichen Musikverein, zur Funkenzunft und zur Feuerwehr. „Wolfram war fixer Bestandteil aller Vereinsfeste. Er durfte Autos einweisen und beherrschte die Handbewegungen wie ein Polizist.“ Einen gewissen Ruhm erlangte er in seiner Heimatgemeinde St. Anton auch als „oberster Sicherheits- und Kontrollchef“. „Wolfram machte jeden Abend einen Kontrollgang durch das Dorf und inspizierte das Gemeinde- und Feuerwehrhaus, die Kirche, den Pfarrhof und das Hotel Adler. Erst dann konnte er sich zu Bett legen und ruhig schlafen.“ Wegen seiner Kontrollgänge kam Angelika manchmal vor Sorge fast um. „Ich hatte Angst, dass er in der Dunkelheit von einem Auto überfahren wird.“ Doch ihr Bruder starb nicht auf der Straße, sondern im Pflegeheim. Er hatte in den vergangenen fünf Jahren an Altersdemenz gelitten.

In seinen letzten Stunden war seine Schwester bei ihm. „Ich habe ihn gehalten, eingecremt und seine Lieblings-CD aufgelegt.“ Obwohl es ihr schwerfiel, ihren geliebten Bruder loszulassen, brachte sie einen Satz über die Lippen, der es ihm leichter machte zu gehen: „Wenn es für dich genug ist, dann ist es für mich auch gut.“ Wenige Stunden später verstarb Wolfram. Ganz viele erwiesen ihm die letzte Ehre. „Aus jedem Haus war jemand da. Der Musikverein musizierte in der Kirche, die Feuerwehr trug den Sarg zum Grab. Und die Funkenzunft hängte ein Bild von ihm auf“, freut sich Angelika, dass ihrem Bruder auch nach seinem Tod viel Wertschätzung entgegengebracht wurde.