Die Solidarität scheint dahin
Die zweite Coronawelle hat uns scheinbar genauso unvorbereitet getroffen wie der erste Aufschlag. Vor allem die Durchhaltemoral betreffend, denn Covid ist nicht kurzfristig. Corona hat uns nicht nur den Frühling, den Sommer genommen. Den allermeisten ist zwischenzeitlich klar: auch Herbst, Winter, ein weiterer Frühling und der Sommer 2021 werden anders sein. Erinnern Sie sich noch daran, wie Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang April von einer „Auferstehung nach Ostern“ sprach. Das war einfacher zu verkraften, als der Dauergefahr-Schwebezustand. Gar nix is fix, aktuell.
Corona führte längst dazu, dass wir uns in den Biedermeier der eigenen Salons zurückziehen. Gefeiert wird mit Familie und Freunden in den eigenen vier Wänden, dort gibt es ja gottlob kein Corona. Der Rückzug in eigene Gedankenwelten nutzen auch gar nicht so wenige als Option: ein Drittel informiert sich laut Studien überhaupt nicht mehr über die Coronakrise. Im März informierten sich noch 92 Prozent.
Kaum ein pensionierter Techniker, der mir nicht sein eigenes Corona-Excel-Tabellenblatt geschickt hat und darin beweisen will, dass die offiziellen Stellen aller Staaten natürlich irren. Auch die Leserpost, die vorwurfsvoll tadelnd fragt, ob die 24 „angeblich“ in Vorarlberg Verstorbenen tatsächlich „an, mit, durch“ oder eben neben Corona dahingeschieden seien, erspare ich Ihnen.
Es gibt genug, die kennen sich nach einem vierminütigen YouTube-Video besser aus als die Experten. Gut nachvollziehbar, dass man sich im Glauben, es gäbe Corona nicht, kurzfristig wesentlich besser fühlt. Verschwörungstheoretiker, Virusleugner sowie Hildmann, Naidoo & Wendler sollen plötzlich die letzten kritischen Menschen sein? Dank Facebook, YouTube, Whatsapp und Telegram erfahren sie ungeahnte Möglichkeiten, ihre wirren Lehren in empfängliche Hirne zu pumpen. Die Sektenführer der Achtzigerjahre hätten von einer solchen Infrastruktur nicht zu träumen gewagt.
Die dramatisch gesunkene Akzeptanz der Regierungsmaßnahmen in Österreich von 91 auf 53 Prozent machen deutlich, dass nachvollziehbare Maßnahmen und glasklare Kommunikation nun notwendiger sind denn je. Wir sind dabei, uns gegenseitig auszuspielen. Junge gegen Alte, Gesunde gegen Kranke, Bund gegen Wien, Hacker gegen Nehammer, Türkise gegen Grüne, Wirtschaft gegen Gesundheitspolitik, Deutsche gegen Österreicher. Die Solidarität ist nicht nur gefährdet. Sie scheint dahin zu sein.
Es ist essenziell, in den kommenden Wochen einen funktionierenden Modus zu finden, die Neuinfektionszahlen unter der Reisewarnungsgrenze zu halten, nicht kollektiv in die Winterdepression zu kippen und nicht gegenseitig übereinander herzufallen.
Helfen kann dabei, endlich ernst zu nehmen, dass es aktuell keine Alternative dazu gibt, die tausendfach durchgekauten Maßnahmen zu befolgen. Auch wenn wir uns lieber umarmen würden und niemand gern die Maske trägt.
Das zugrundeliegende Prinzip, um die Infektionszahlen unter Kontrolle zu halten, heißt bekanntlich „Hammer und Tanz“. Gut möglich, dass wir es ohne zweiten Hammer nicht verstehen.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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