Schuldzuweisung
Der langjährige Spitzenpolitiker und frühere Präsident des Nationalrates Andreas Khol meinte kürzlich in einer Fernsehdiskussion, das politische Klima in Österreich sei heute durch eine Emotion geprägt, die man früher bei allen Auseinandersetzungen nicht in dieser Form gekannt habe: durch Hass. Aus psychologischer Sicht müsste man dem eine weit weniger beachtete, aber ähnlich destruktive Kategorie hinzufügen, nämlich jene der Schuldzuweisung. Dieses verhängnisvolle Schwarze-Peter-Spiel scheint derzeit die beliebteste Methode im politischen Handwerk zu sein, auch in Teilen der medialen Berichterstattung und der gesellschaftlichen Diskussion. Bezeichnend ist etwa, wenn der Nationalrat in der größten Krise unserer Zeit nichts anderes zu tun hat, als seine Kräfte in einem Schuldzuweisungsspektakel zu verschwenden.
„Kritik ist für das Funktionieren der Gesellschaft wichtig und für jegliche Kontrolle unverzichtbar.“
Kritik ist für das Funktionieren der Gesellschaft wichtig und für jegliche Kontrolle unverzichtbar. Erforderlich ist aber konstruktives Kritisieren, nicht dessen destruktive Form, die Schuldzuweisung. Diese ist so beliebt, weil die Beschuldiger eigene Schuldgefühle auf andere verlagern und sich selbst in eine gehobene, gleichsam „entschuldigte“ Position, jene des Inquisitionsrichters, hieven können. Schuldzuweisungen sind nicht nur ein ständig benutztes Machtinstrument, sie führen auch zur Entwertung der Beschuldigten. Die sich in ihrem Narzissmus sonnenden Schuldzuweiser berücksichtigen in keiner Weise, wie schwer auch ungerechtfertigte Schuldgefühle die Opfer belasten und wie stark die Rolle des schwarzen Schafes jede Persönlichkeit schwächen, ja das ganze Leben beeinträchtigen kann.
Nun ist nicht davon auszugehen, dass professionelle Schuldzuweiser imstande sind, ihr destruktives Verhalten zu reflektieren, die angenehme Position des Beschämers ohne Weiteres aufzugeben oder sich gar zum Einfühlen in die Sündenböcke, zur Empathie, durchzuringen. Vielleicht könnte sie aber das Bild, das die Psychologie von der Schuldzuweisung hat, zum Nachdenken anregen. Es ist jene des Kindes, dem ein Malheur passiert ist, das sich aber von seinen Schuldgefühlen durch die Behauptung, jemand anderer habe ihm in seine Hosen gemacht, befreien will. Schuldzuweisungen sind also unreife, die Mitmenschen verachtende und das gesellschaftliche Klima vergiftende Mechanismen. Da wir keine Unkultur der Beschämung wollen, gebietet sowohl die Würde der Menschen als auch jene des jeweiligen Amtes, sich mit der Psychologie der Schuldzuweisung auseinanderzusetzen.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
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