Das soziale Netz bekommt Löcher

Vorarlberg / 25.05.2021 • 21:12 Uhr

Bald gilt die neue Sozialhilfe. Härtefälle sind programmiert.

Schwarzach Der Staat meinte es von Beginn an nicht gut mit Herrn Müller. Der Vater staatenlos, die Mutter Deutsche, kommt er Anfang der 60er-Jahre in Vorarlberg zur Welt. Ihm wird der Nachname der Mutter zugesprochen; aber die Staatsbürgerschaft des Vaters: keine. Rund 60 Jahre später führt das zum Problem. Anfang April 2021 erhält Herr Müller einen Brief der Bezirkshauptmannschaft Bregenz. „Wir müssen diese Leistungen leider einstellen, weil das Sozialleistungsgesetz aufgrund zwingender bundesrechtlicher Vorgaben solche Leistungen nicht mehr vorsieht.“ Er erhält keine Sozialhilfe mehr.

Herr Müller heißt nicht wirklich so, er möchte anonym bleiben. Sein Fall ist aber echt. Für wie viele er exemplarisch steht, ist unklar. Spricht man mit Experten, stellt sich heraus: Niemand weiß so genau, wie sich die neue Sozialhilfe auswirkt. Am 1. April trat sie in Kraft, die Übergangsfrist endet am 31. Mai. Die Landesverwaltung hat versucht, Härtefälle bis zum Ende der Übergangsfrist noch in der alten Mindestsicherung zu belassen. Ab 1. Juni spüren alle die Auswirkungen des Grundsatzgesetzes, das noch unter der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung beschlossen wurde. Selbst Soziallandesrätin Katharina Wiesflecker kann noch nicht sagen, wo genau Härtefälle entstehen. Derzeit werden die Fälle gesammelt. EWR-Bürger ohne separatem Aufenthaltstitel erhalten gar nichts mehr. Subsidiär Schutzberechtigte und Menschen mit humanitärem Bleiberecht bekommen noch 267,5 Euro pro Person und Monat. Ein Kind erhält 152,5 Euro. Dazu kommen 150 Euro zum Wohnen, allerdings mit Interpretationsspielraum.

Auf der Straße?

Caritas-Direktor Walter Schmolly warnt: „Noch sehen wir nicht, wie für diese Gruppe die Absicherung der Existenzbedürfnisse möglich ist.“ Experten im Land sind sich sicher: Spätestens nach der Hälfte des Monats werden sie das Geld aufgebraucht haben und müssen mit Lebensmittelgutscheinen versorgt werden. Michael Diettrich von der Armutskonferenz ist überzeugt: „Das wird rasch zu einem riesen Problem. Was wird mit diesen Menschen? Die stehen im Prinzip auf der Straße.“ Dowas-Geschäftsführer Peter Brunner betont: „Bei vielen wird es zu Verschlechterungen führen.“ Es dürfte auch einige geben, der gar nichts mehr erhalten, wie Herr Müller. Unklar sei jedoch, wie viele das sind. Das liegt an dem komplizierten Regelwerk.

Auch Michael Hämmerle von Kaplan Bonetti berichtet: „Es ist extrem kompliziert geworden. Schon wir können die Leistungshöhe kaum nachvollziehen. Für Betroffene ist es unmöglich.“ Brunner bestätigt: „Es klingt blöd, aber wir können unseren Klienten nicht sagen, womit sie zu rechnen haben.“ Für Michael Diettrich steht fest: „Im Endeffekt wird sich erst im Vollzug rausstellen, wer rausfällt.“ Dass es so kompliziert ist, liegt unter anderem am guten Willen des Landes. Dort hat man versucht, Wege zu finden, trotz des Grundsatzgesetzes noch halbwegs auf dem Niveau der Mindest­sicherung zu bleiben.

Und Herr Müller? Er hat sein Vertrauen in den Staat längst verloren. In Heimen gequält, von der Polizei früh ins Visier genommen, psychisch erkrankt. Nun könnte er doch noch einmal an der absoluten Not vorbeischrammen. Er erhielt bereits eine Einmalentschädigung für die Qualen im Heim. Als Opfer könnte er einen Aufenthaltsstatus erlangen. Dann wäre er bezugsberechtigt.

„Noch sehen wir nicht, wie für diese Gruppe die Absicherung der Existenzbedürfnisse möglich ist.“