“Die Wirtschaft sollte mehr in die Pflicht genommen werden”

Andrea Kaufmann möchte bei Familienpolitik nicht nur über Kinderbetreuung reden.
Dornbirn Familienpolitik ist nicht nur Kinderbetreuung, betont Gemeindeverbandspräsidentin Andrea Kaufmann im VN-Interview. Die Dornbirner Bürgermeisterin pocht auf mehr Flexibilität und nimmt die Wirtschaft in die Pflicht.
Laut Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ) könnte es ab 2024 mit den Gemeindefinanzen eng werden, auch weil ein Teil des zweiten Gemeindepakets zurückgezahlt werden muss. Stimmt das?
Die Investitionsmilliarde hat uns schon sehr geholfen. Dass Teile der 1,5 Milliarden aus dem zweiten Hilfspaket zurückgezahlt werden müssen, versuchen wir derzeit auf Bundesebene mit dem österreichischen Gemeindebund zu ändern. Es wird aber sowieso eng bis 2024.
Die Verhandlungen über einen neuen Finanzausgleich wurden für zwei Jahre verschoben. Sollte danach wieder über die Aufgabenorientierung gesprochen werden?
Stärker in Richtung Aufgabenorientierung zu gehen, wäre sicher der richtige Weg. Aber wir müssen auf die Auswirkungen auf Vorarlberg achten. Wir können nichts verhandeln, mit dem Vorarlberg in Summe schlechter aussteigt als zuvor.
Könnte das geschehen?
Man versucht immer, einen Ausgleich zwischen den Bundesländern zu finden. Wir sehen das gerade beim Strukturfonds, der ein Teil des Gemeindehilfspakets ist. Von 100 Millionen Euro sind 0,88 Prozent, also 880.000 Euro nach Vorarlberg geflossen. Wir müssen schon auch berücksichtigen, dass es in Vorarlberg höhere Kosten gibt als zum Beispiel im Burgenland.

Im Land wird derzeit das Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz verhandelt. Wie weit sind Sie?
Es ist eine ganz schwierige Materie. Ich habe zum Glück den Vorteil, dass ich nicht verdächtig bin, nicht für flächendeckende Kinderbetreuung zu sein. Dornbirn ist ein Vorreiter. Aber als Gemeindeverbandspräsidentin muss ich auf alle Gemeinden schauen. Wir sind froh, dass eine langjährige Forderung bald Realität wird, nämlich die Flexibilität. Wenn eine Volksschule und ein Kindergarten nebeneinander stehen, war es bisher nahezu unmöglich, dass am Nachmittag ein Erstklässer in den Kindergarten geht.
Und über Rechtsanspruch diskutieren Sie noch?
Der heißt im neuen Gesetz zwar Vorsorgeverpflichtung, ist de facto aber natürlich das gleiche. Die Gemeinden wollen natürlich eine möglichst flächendeckende Betreuung anbieten. Dass die Eltern den Bedarf bestimmen, ist völlig okay. Aber Gemeinden können das nicht alleine machen, es braucht Partner wie die vielen privaten Einrichtungen. Man muss schauen, wie die Kooperation funktioniert und was geschieht, wenn eine Gemeinde den Platz nicht anbieten kann. Außerdem geht es um Förderrichtlinien. Was wir nicht möchten, ist eine Situation wie in Deutschland, wo Eltern vor Gericht gezogen sind. Kinderbetreuung ist sowieso nur ein Teil von innovativer Familienpolitik.
Was gehört noch dazu?
Die Wirtschaft sollte mehr in die Pflicht genommen werden, was die Vereinbarkeit betrifft. Es ist bei uns nach wie vor so, dass sich viele darüber definieren, wie lange sie im Büro sind. Das kann es doch nicht sein. Wenn man die Lebenszeit hernimmt, sieht man, dass die Familienzeit der kleinere Teil ist. In diesen vier bis fünf Jahren könnten beide auf 70 Prozent runtergehen, der Rest wird mit einem guten Kinderbetreuungsnetz abgedeckt. Ich verwehre mich einfach dagegen, dass man sich nur eine Maßnahme ansieht, die eigentlich völlig retro ist, nämlich möglichst früh, möglichst schnell und möglichst alles mit Kinderbetreuung zu lösen.

70/70-Modelle sind theoretisch ja schon möglich. Befürchten einfach zu viele Karrierenachteile?
Ja. Das muss wahrscheinlich von Firmenchefs selbst gelebt werden. Ich rede mit so vielen Eltern. Die meisten sagen, sie wollen vor allem in der Gründungsphase einer Familie nicht 100 Prozent arbeiten, damit nicht alles an ihnen vorbei geht. Natürlich gibt es auch andere, das ist okay. Wir brauchen Modelle, die für alle passen. Das geht auch in die Richtung, Sitzungen nicht am Abend anzusetzen. Wenn in Skandinavien ein Familienvater um 17 Uhr noch im Büro sitzt, denken sich die Kollegen, dass zu Hause etwas nicht stimmt. Mir ist klar, dass wir von einem privilegierten Bereich sprechen. In der Produktion ist das nur schönes Gerede. Aber wir sollten dort, wo es möglich ist, solche flexiblen Modelle schaffen.

Wie geht es Ihnen als ÖVP-Politikerin mit der Darstellung der Bundespolitik? Chats, U-Ausschuss, Ermittlungen …
Es ist ja nicht nur die ÖVP. Das Bild der Politik insgesamt ist derzeit nicht gut. Das tut mir persönlich weh und auch leid. Natürlich sind diese Chat-Nachrichten unterirdisch. Aber ich bin schon lange in der Politik. In den letzten 25 Jahren wurden immer Posten vergeben, egal wer an der Macht ist. Der Stil der Nachrichten spricht für sich. Aber das Thema ist nicht neu.
Sebastian Kurz hat einen neuen Stil versprochen, aber den alten weitergeführt.
Ja … Ja, über das möchte ich mich gar nicht auslassen. In einer verantwortlichen Position darf und muss man sich überlegen, wer für eine Position mitgeeignet ist. Das passiert in jeder Gemeinde, in jeder Stadt, in jedem Land und auf Bundesebene. Das gehört zu einer Führungsverantwortung. Aber über diesen Stil müssen wir nicht reden. Indiskutabel.
