Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Pech

Vorarlberg / 10.08.2021 • 09:30 Uhr

Ein großgewachsenes Mädchen, die Haare streng zu einem Knoten in der Kopfmitte gebunden, so wie es jetzt viele haben, stolzierte auf die Treppe zu. Sie nahm ihr Handy in Position, um sich zu fotografieren. Ihr schwarzer Rollkragenpullover betonte ihre schmale Figur, auch die Hose, die eng war wie ein Taucheranzug. Ihre Schuhe – darauf habe ich nicht geachtet. Da gerade, ihr Gesicht auf das Handy geheftet, stolperte sie und fiel die Stufen hinunter, geradewegs auf ihr Handy. Es waren Leute unterwegs, die die Szene beobachtet hatten. Einige ignorierten sie, drei andere, unter ihnen ich, eilten zur Hilfe. Blut lief aus ihrer Nase, hinunter in den Rollkragen, auf ihre Brust. Wäre ihr Pullover weiß gewesen, hätte alles noch viel schlimmer ausgesehen. Sie hob den Kopf. Ein Mann hatte die Rettung gerufen. Er fragte mich, ob ich warten wolle, bis die Sanitäter eingetroffen wären. Ich nickte.

Ein Mann hatte die Rettung gerufen. Er fragte mich, ob ich warten wolle, bis die Sanitäter eingetroffen wären.“

Ich traute mich nicht, sie aufzurichten, aus Angst, alles noch schlimmer zu machen. Sie fragte nach ihrem Handy und der kleinen Tasche. Das Handy sah nicht kaputt aus, blutete nicht.

Es dauerte nicht lange, da trafen zwei Sanitäter ein und trugen sie auf die Bahre.
„Es wird schon alles gut werden“, sagte ich, und das Mädchen sagte: „Wie sieht mein Gesicht aus?“
Ein Sanitäter fragte, wie das passiert sei, und ich erzählte von dem Stolpern auf der Treppe und wie es dazu gekommen war.

„Scheiß Handys“, sagte der Sanitäter, ein junger Mann mit Rossschwanz.
Ich überlegte beim Nachhausegehen, ob die junge Frau sich wohl daran erinnern konnte, wie es geschehen war. Ob sie es verdrängte. Ob sie auf dem Krankenbett gleich wieder ein Foto würde machen wollen. Oder ob sie nun von der Selfiesucht geheilt war. Ich ertappte und verachtete mich dabei, weil ich dachte: Selber schuld. Mitleid hatte ich aber auch. Sie hatte doch so gottverlassen ausgesehen.

Ihre Verabredung jedenfalls hatte sie nicht einhalten können. Ob sie ihren Freund, ihren Papa oder die Mama informiert hatte?

Ich dachte, nein, hat kein Freund auf sie gewartet, sonst hätte er sie doch abgeholt, und alles wäre nicht passiert. Sie hätte an seiner Seite keine Lust gehabt, sich zu fotografieren. Ich stellte mir weiter vor, dass sie, kaum auf dem weißen Leintuch gelandet, nach ihrem Handy fragte, um sich anzuschauen. Ob das Foto schon geschossen war, bevor es passierte. Sie müsste die Schwester fragen, und die würde sagen: „Jetzt bleiben Sie einmal erst ganz ruhig liegen bis der Arzt kommt.“ Das Blut wäre aus ihrem Gesicht gewischt, wahrscheinlich war die Nase gebrochen.

„Pech gehabt“, würde der Arzt sagen, die Schwester hätte ihr den blutgetränkten Pullover bereits aus- und ein weißes Hemd angezogen, ihr den Knoten geöffnet, weil sie mit geöffneten Haaren besser liegen konnte.
„Scheiß Handys“, sagte der Arzt.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.