Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Der Duft der Bücher

Vorarlberg / 24.08.2021 • 14:00 Uhr

Bücher duften. Ihre Liebhaber wissen das. Die Druckerfarbe, das Papier, der Leim, Stoff oder Leder verleihen einem Buch seine unverwechselbare Note. Wenn also ein Kunde in der Buchhandlung erst mit den Fingern über den Buchrücken streicht, damit seine Fingerkuppen den eingeprägten Titel ertasten und er dabei kurz die Augen schließt, wenn er dann das Buch öffnet und sein Gesicht für einen tiefen Atemzug darin verbirgt, dann ist er nicht etwa verrückt. Also nicht zwingend. Er weiß eben um diese weitere Dimension von Bedrucktem, die etwas Zeitloses hat und die ihm anlässlich eines Bildschirms nie und nimmer in den Sinn käme. Oder haben sie schon jemanden an einem iPad riechen sehen? Eben.

Das Kind jedenfalls starrt den Herrn unverwandt mit großen Augen an, wie er so hingebungsvoll am bedruckten Papier schnuppert, und das Hochfest seines Geruchssinns mit einem anerkennenden Brummen unterstreicht. Als seine Augen dann über den Bücherrand gleiten, kann er gerade noch sehen, wie die Kleine erwartungsfroh ein aufgeschlagenes Kinderbuch an die ausgestreckte Zunge legt.
Gewiss, das wäre die logische Weiterentwicklung. Aber es mündet in einem lang gedehnten „Wäh“ und einem vorwurfsvollen Blick. Was soll man machen? Bücher duften, aber sie schmecken lausig. Dass man sich Texte „auf der Zunge zergehen lassen“ kann, das kommt dann später.

Mag man sich überhaupt vorstellen, dass in manchen Winkeln der Erde das lustvolle Lesen verboten ist?

Thomas Matt

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