Begegnung
Ein junger Mann aus gutem Haus, wie es hieß, wohlerzogen und nie auf Abwegen, suchte eine Frau, die zu ihm passen sollte. Er besuchte Vorträge und Ausstellungen, um die Richtige zu finden, eine Gebildete, eine zum Herzeigen. Aber es funktionierte nicht. Er begegnete etlichen Frauen, die vom Aussehen her in seine Familie gepasst hätten, zu seiner perfekten Mutter und dem soliden Vater. Blonde mit gutem Haarschnitt, Dunkelhaarige mit sportlicher Figur.
Wie er sich dann entschied, verstand die Familie nicht.
„Er verliebte sich in eine etwas nachlässige Frau, die er auf den Stufen zur Post sitzen sah.“
Er verliebte sich in eine etwas nachlässige Frau, die er auf den Stufen zur Post sitzen sah. Sie entsprach nicht seinen Vorgaben, und trotzdem ließ er sich von ihr anreden. Sie war auf ihn zugekommen, er mit einem Strohhalm zwischen den Zähnen, sie barfuß mit Sandalen in der Hand. Sie fragte ihn, ob er ihr helfen könne, der Riemen ihrer linken Sandale sei gerissen.
„Neue Schuhe kaufen“, riet er ihr, und dann im Übermut schlug er ihr vor, sie auf den Schuhkauf zu begleiten und auch zu bezahlen. Sie suchte sich die teuersten aus. Gleich zog sie die Pumps an. Sie hatten einen schrägen Absatz und waren spitz zulaufend. Nach einer Viertelstunde schon hatte sie Blasen an den Zehen. Sie zog die Schuhe aus und lief wieder barfuß an seiner Seite.
„Gehen wir zu dir?“, fragte sie. Er ließ sich gern duzen und überlegte sich sein weiteres Verhalten. Er würde sie in seine Wohnung mitnehmen. Er hatte noch kaltes Beef im Kühlschrank und vom Weißwein genug.
Sie wunderte sich nicht über die schicke Wohnung. Solche Männer hatten eben solche Wohnungen.
Er servierte auf dem feinen Wohnzimmertisch, und sie aß mit den Händen, wollte kein Besteck. Er überlegte, was er mit seinem Messer und der Gabel anstellen sollte, schließlich aß er auch mit den Händen. Sie hieß mit Taufnamen Henriette, wollte aber Jette genannt werden. Ihre Haare waren blau gefärbt, so blau wie die Blumen auf der Tapete.
„Sollen wir ins Bett miteinander?“, fragte sie. „Ich meine zum Ausgleich für die Schuhe.“
Sie zog das Kleid aus und legte sich nur mit dem Slip ins Bett, BH trug sie keinen. Er behielt seine Unterwäsche an. Bald war sie eingeschlafen und schnarchte auch ein wenig. Er starrte auf die Decke und überlegte sich, wie es weitergehen könnte. Was würde geschehen, wenn sie aufwachte? War mit Sex zu rechnen? Es ging alles zu schnell. Sie wachte auf und fragte, ob sie seine Zahnbürste benützen dürfe, sie habe einen komischen Geschmack im Mund, nicht zum Küssen geeignet. Dann wollte sie fort.
„Aber was geschieht mit uns in der Zukunft?“, fragte er.
„Ich weiß ja nicht einmal, wie du heißt“, sagte sie. „Wie willst du genannt werden?“
Die Schuhe ließ sie liegen.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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