Telefonseelsorge: Auch bei den Menschen im Land schürt die Ukraine-Krise die Angst

Vorarlberg / 10.03.2022 • 09:00 Uhr
Telefonseelsorge: Auch bei den Menschen im Land schürt die Ukraine-Krise die Angst
Sepp Gröfler arbeitet mit seiner Stellvertreterin Barbara Moser-Natter eng zusammen. VN/Steurer

Nach Corona sorgen die Kriegswirren für Mehrarbeit.

Dornbirn Die E-Mail kam um zwei Uhr früh. Eine junge Mutter, von panischer Kriegsangst getrieben, hatte sie geschickt. „Bitte sagen Sie mir, dass es bald vorbei sein wird“, stand als Schlusssatz. Das konnte die diensthabende Mitarbeiterin der Telefonseelsorge zwar nicht, aber nach einem längeren Gespräch zumindest zur Beruhigung beitragen. Die 142 ist zu einer wichtigen Nummer für Hilfesuchende geworden. Schon während der Pandemie und jetzt ist es die Ukraine-Krise, die neben vielem anderen Sorgen bereitet, bestätigt Leiter Sepp Gröfler (60) im VN-Interview.

Fast 17.000 Anrufe im vergangenen Jahr. So viele wie noch nie … was geht Ihnen da durch den Kopf?

Gröfler Dass die Telefonseelsorge notwendiger ist denn je. Bei uns kommen die Menschen an, die überall abgewiesen werden oder niemanden mehr haben, mit dem sie reden können. Unsere Mitarbeitenden haben gespürt, dass es mit Corona und aktuell mit der Ukraine-Krise mehr Arbeit geben wird, und von sich aus die Dienste sofort doppelt besetzt.

Ist auch die Anonymität ein Grund, dass sich mehr Menschen bei Problemen an die Telefonseelsorge wenden?

Gröfler Die Anonymität ist wichtig und der kurze Weg zum Gespräch. Der Anruf kostet nichts, es sind nur drei Ziffern, 142, zu wählen, schon ist man mit uns verbunden, und das auch am Abend und in der Nacht, wenn sonst keiner mehr da ist. Gerade in solchen Zeiten dreht sich die Gedankenspirale oft in die falsche Richtung. Dann braucht es ein Ventil, und das sind oft wir.

Wann kommen die meisten Anrufe?

Gröfler Die meisten Anrufe kommen zwischen 18 und 23.30 Uhr. Die Gespräche in der Nacht sind andere als am Tag.

Inwiefern unterscheiden sie sich?

Gröfler Am Tag sind sie etwas kürzer, in der Nacht beanspruchen sie mehr Zeit. Da sind es eher längere und persönlichere Gespräche. Während des Tages geht es vor allem um Alltagsthemen.

Wie kann die Telefonseelsorge konkret unterstützen?

Gröfler Indem wir zuhören. Zuhören hilft, und im Zuhören lassen sich Sorgen teilen. Wenn ich mich mitteile, wiegt die Last schon ein Stück weniger schwer. Das zeigt sich immer wieder. Eine Außenansicht relativiert in einer Krise sehr viel. Man gewinnt Zeit, kann durchatmen. Man macht sich am Telefon häufig auch gemeinsam auf die Suche nach Ressourcen. Das ist ebenfalls oft hilfreich. Zudem unterstützen wir bei Bedarf mit Informationen zum sozialen Netz.

Schon Corona war für viele Menschen enorm belastend. Jetzt der Ukraine-Konflikt. Macht sich diese Krise auch in Anrufen bemerkbar?

Gröfler Die ersten Tage nach Kriegsbeginn war sehr viel Panik spürbar. Inzwischen ist der Krieg bereits zum Nebenthema geworden. Jetzt dominieren wieder Alltagsprobleme wie die hohen Benzinpreise, der Nachbarschaftsstreit, Existenzängste, Sucht- und Schulprobleme.

Welchen Stellenwert hat die Online-Beratung bei der Telefonseelsorge?

Gröfler Mailberatungen stagnieren, Chatberatungen haben stark angezogen. Vor allem jüngere Menschen nutzen dieses Medium. Diese Gespräche sind meist sehr intensiv. Da geht es auch um Selbstverletzungen und Suizidgedanken.

Hat sich die Altersstruktur der Hilfesuchenden verändert?

Gröfler Es rufen inzwischen wieder mehr Jugendliche an. Die hatten wir eine Zeitlang ein bisschen verloren. Das Gros der Anrufer ist zwischen 40 und 60. Inzwischen getrauen sich auch immer mehr ältere Menschen anzurufen. Früher herrschte die Meinung vor, wegen so etwas kann ich doch nicht anrufen, aber für uns ist keine Sorge zu gering.

Gibt es noch genug Menschen, die diese ehrenamtliche Arbeit machen wollen?

Gröfler Wir haben das Glück, dass diese Arbeit gefragt ist. Von der Altersstruktur her fehlen uns ein bisschen die Jüngeren, ansonsten haben wir alle zwei Jahre einen vollen Ausbildungslehrgang. Es ist eine hohe Form des Ehrenamts. Die Leute müssen 200 Stunden im Jahr für uns arbeiten, und das kostenlos und für mindestens drei Jahre. Ich habe aber noch nie gehört „ich gebe so viel“, sondern nur „ich bekomme so viel“. Die Leute erleben ihr Engagement als sinnstiftend.

Wie viele Telefonate kommen pro Tag herein?

Gröfler Früher waren es 30 bis 40, aktuell sind es zwischen 50 und 70. Die Dauer ist unterschiedlich lang, je nachdem, um welches Anliegen es sich handelt. Oft geht ein Gespräch gut aus, aber zuweilen gibt es auch ein letztes Gespräch. Auch damit müssen wir zurechtkommen.