Verrückte Zeiten

Globale Erwärmung, nicht enden wollende Pandemie, Krieg sogar in Europa, Energiekrise und Rohstoffmangel, Inflation und Teuerungswelle – und jetzt noch Dürre und Unwetter. Selbst leidenschaftliche Weltuntergangspropheten und professionelle Zukunftsforscher haben vor drei Jahren in keiner Weise prognostiziert, was seither geballt auf uns zugekommen ist. Wir reiben uns die Augen und können kaum glauben, wie sich die Welt verändert hat, wie Wohlstand und Friede bedroht sind und das scheinbar Selbstverständliche plötzlich infrage gestellt ist. Die Zeiten sind verrückt geworden, wird überall geklagt.
Solche Herausrückungen aus dem Normalen – nichts anderes ist Verrücktheit – hat es aber immer schon gegeben. So ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Kriege. Lediglich unserer Generation war es vergönnt, hier in kriegsfreier Zeit zu leben. Naturkatastrophen jeglicher Art begleiten die menschliche Gesellschaft und Seuchen haben oft ganze Landstriche entvölkert. Selbst der durch uns Menschen verstärkte Klimawandel ist nicht neu. Dies belegen etwa die in mehreren europäischen Flüssen gefundenen Hungersteine, mit welchen seit dem Jahr 1417 extrem niedrige Pegelstände markiert wurden. „Wenn Du mich siehst, dann weine“ heißt es auf einem derartigen, normalerweise unter dem Wasser liegenden Mahnmal, womit auf die den extremen Dürreperioden folgenden Hungersnöte hingewiesen werden sollte. In der Schweiz legte die Gletscherschmelze den über Jahrhunderte von einer dicken Eisschicht belegten Zanfleuronpass frei, der aber laut Wissenschaft vor 2000 Jahren auch eisfrei gewesen sein muss. Selbst die Inflation wurde schon in alten Zeiten gefürchtet, wenn in einer mittelalterlichen Litanei gebeten wird, der Herr möge vor „Theuerung und Noth“ bewahren, also vor Inflation und neuer Armut. Und die große Angst unserer Großelterngeneration war nicht nur jene vor dem 3. Weltkrieg, sondern auch die vor dem „Verrecken“ des Geldes.
Die heutigen Verrückungen haben uns gleichsam in die oft triste Normalität zurückgeworfen.
Betrachtet man die aktuellen Schreckensszenarien in historischer Perspektive, so ist nicht unsere Zeit verrückt, vielmehr ist eine positiv verrückte Phase des langjährigen Friedens und scheinbar unbegrenzten Wachstums zu Ende gegangen. Die heutigen Verrückungen haben uns gleichsam in die oft triste Normalität zurückgeworfen. Zum Verrücktwerden ist allerdings die Erkenntnis, dass ein erheblicher Teil der negativen Verrücktheiten, vor allem Krieg und Umweltzerstörung, immer noch von den Menschen selbst gemacht wird.
Reinhard Haller
reinhard.haller@vn.at
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.