Jürgen Weiss

Kommentar

Jürgen Weiss

Blick in die Schweiz

Vorarlberg / 30.08.2022 • 06:29 Uhr

In einem Monat wählen die Tirolerinnen und Tiroler einen neuen Landtag und – indirekt – auch einen neuen Landeshauptmann. Damit sind die Möglichkeiten, an der politischen Willensbildung mitwirken zu können, aber auch schon weitgehend erschöpft. Am selben Tag bietet die Schweiz hinsichtlich der politischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger ein ganz anderes Bild. Regelmäßig alle drei Monate ist Volksabstimmungssonntag. Am 24. September wird entschieden, ob ein Bürgervorschlag für eine Verankerung der Würde von Nutztieren in der Verfassung und das Verbot von Massentierhaltung auch ohne Parlament Gesetz wird. Weiters wird darüber abgestimmt, ob Parlamentsbeschlüsse über Reformen der Alters- und Hinterbliebenenversicherung und der Zinsertragsbesteuerung tatsächlich Gesetz werden sollen. Wenn es von 50.000 Wahlberechtigten (das ist weniger als ein Prozent) verlangt wird, müssen in der Schweiz Gesetzesbeschlüsse dem Volk zur Genehmigung vorgelegt werden.

Da wäre dann der Schaden größer als der Nutzen.

Von solchen Möglichkeiten sind wir in Österreich meilenweit entfernt. Der letzte Anlauf für eine Stärkung direkter Demokratie im türkis-blauen Regierungsprogramm von 2017 (Möglichkeit zur Umsetzung von Volksbegehren durch Volksabstimmung) ist folgenlos geblieben. Die SPÖ hat kürzlich ein Transparenz- und Demokratiepaket vorgelegt, nach dem unter anderem die Behandlung von Volksbegehren im Nationalrat höhere Priorität bekommen soll, mehr nicht. Lediglich der Aktualität halber ist hier die SPÖ erwähnt, in den Programmen der anderen Parteien sieht es nicht viel besser aus.

Als der Verfassungsgerichtshof die Vorarlberger Regelung aufhob, eine Volksabstimmung auch gegen den Willen der Gemeindevertretung abhalten zu können, wollten im Nationalrat die Oppositionsparteien über Druck aus Vorarlberg die Bundesregierung veranlassen, das mit einem Gesetzesantrag zu reparieren. ÖVP und Grüne setzten hingegen durch, dass mit den Ländern zunächst ergründet werden soll, inwieweit so etwas aufgrund regionaler Bedürfnisse zur direkten Demokratie überhaupt angezeigt ist. Bei ihrem Festspielaufenthalt hat die türkise Verfassungsministerin Edtstadler durchblicken lassen, dass sie von einer notwendigen bundesweiten Volksabstimmung zu diesem Thema nicht viel hält. Die direkte Demokratie werde nicht in allen Bundesländern als gleich wichtig wie in Vorarlberg angesehen. Daher wird auf absehbare Zeit nichts anderes übrigbleiben, als neidvoll in die Schweiz zu blicken und das Thema warmzuhalten. Nicht zu unterschätzen ist allerdings die Gefahr, dass sich eine Volksabstimmung nicht auf eine Stärkung der direkten Demokratie in den Gemeinden beschränken würde, sondern die Länder unter einem Aufwaschen in die Zange genommen würden. Da wäre dann der Schaden für die restliche Eigenständigkeit der Länder größer als der Nutzen.

Jürgen Weiss

juergen.weiss@vn.at

Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.