Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Schwierige Verhältnisse

Vorarlberg / 12.10.2022 • 09:59 Uhr

Eine Geschichte in zehn Teilen. Teil 3

Wenn Luise an Andi dachte, zitterten ihre Hände, und ihr wurde von den Fingerspitzen aufwärts kalt. Nachdem ihr Andi die Knöpfe der Bluse aufgerissen und die Hände auf ihre Brust gelegt hatte, hätte sie nicht mehr an ihn denken dürfen. Sie kannte nicht einen Menschen, der ihr etwas anderes geraten hätte. Aber sie dachte an ihn.

„Jetzt bist ausnahmsweise du dran. Damit die Summe der Probleme in unserer Familie immer gleich bleibt.“

„Du hast ein Problem“, sagte die Mutter, „das sehe ich mit blinden Augen.“ Es war Nachmittag. Sie kam gerade aus der Wäscherei. Ihr Gesicht war gerötet und sie bester Laune. „Jetzt bist ausnahmsweise du dran. Damit die Summe der Probleme in unserer Familie immer gleich bleibt.“

Die Mutter hatte sich mit einer Schweizerin angefreundet, die hieß Charlie. Sie wollten sich am Abend treffen und aufmischen.
„Was heißt aufmischen, um Himmelswillen!“, rief Luise in die Wohnung hinein.

„Wir wollen schauen, ob die Männer noch auf uns reagieren.“
Charlie komme vorbei und richte sie her.
„Sie kann das. Wenn du willst, richtet sie dich auch her.“

Zu Hause durchsuchte Andi die Kleider, die seine Mutter zurückgelassen hatte. Er fand eine Bluse mit ähnlich schillernden Knöpfen. Vor dem Spiegel drückte er sie an seinen Körper, stellte sich den Busen seiner Mutter und den von Luise vor. Luises war voller, mit blauen Äderchen. Seine Mutter hatte nichts Tiefes, wie Luise Tiefes hatte. Trotzdem fehlte sie ihm. Oder doch nicht.

Wenn er Luise diese Bluse schenkte, war das geschmacklos? Jeder kann immer an allem irgendetwas Geschmackloses finden. Seine Mutter fand immer und an allem irgendetwas Geschmackloses. Diesbezüglich vermisste er sie ganz sicher nicht. Er hoffte, Luise würde ihm verzeihen. Er wickelte die Bluse in Seidenpapier und steckte sie in seine Schultasche. In der Schule dann, als Luise nicht an ihrem Platz saß, schob er sie in ihre Mappe.

Am Abend kam Charlie mit ihrem Schminkkoffer. Sie färbte Luises Mutter die Haare hell, schminkte ihre Augen, gab sich Mühe mit den Brauen, füllte ihren Mund rot aus, malte sogar einen feinen Strich über die Lippen hinaus, und dieser Strich war eine Spur dunkler, puderte das Gesicht.
„Ein Wunder habe ich vollbracht“, sagte Charlie.
Die Mutter legte einen Zettel auf den Küchentisch: „Bin weg, komm spät.“

Luise fand das Seidenpapier-Paket und gleich wusste sie, das kam von Andi. Erst zu Hause wollte sie es öffnen.

Zu Hause zog sie die Bluse an, sie war ihr am Busen zu eng. Sie zwängte sie zu, dann riss sie sie auseinander, wie Andi es getan hatte. Ihr war zum Weinen. Sie meinte, in so einer Situation müsse man weinen. Auch wenn man allein mit sich selber ist.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.