Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Ein Ereignis

Vorarlberg / 04.07.2023 • 18:00 Uhr

Der Mann tat so, als kennte er mich, als wüsste er über mich Bescheid, was mir Angst machte, ich nämlich kannte ihn gar nicht.
Er sagte, als ich ihn im Zug traf: „Wir sind es so gewöhnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir es zuletzt selber glauben.“
„Ich kenne Sie wirklich nicht“, sagte ich mit Nachdruck. „Sie müssen sich irren.“
Ich setzte mich weit weg von ihm, sodass er mich nicht im Blick haben konnte, packte meinen Computer aus und begann zu schreiben. Nichts wollte mir gelingen.

Bald darauf kam der Schaffner und sagte, der Mann in der vordersten Sitzreihe, lasse mir ausrichten, dass er mir das Geld zurückgeben wolle, das ich ihm vor Jahren geliehen hätte.
„Sagen Sie ihm“, bat ich den Schaffner, „er müsse mich mit jemand verwechseln, und er soll mich in Ruhe lassen.“

„‚Sagen Sie ihm‘, bat ich den Schaffner‚ ‚er müsse mich mit jemand verwechseln, und er soll mich in Ruhe lassen.‘“

Ich packte meine Sachen und ging ins nächste Abteil. Wird es so werden, dass dieser Mensch meinen Tag kaputt macht? Ein neuer Fahrgast setzte sich mir gegenüber, eine Frau um die Vierzig, und bald sagte sie, im vorderen Abteil sitze ein Mann, dem ich etwas schuldig sei. Ich erklärte die Situation, und zu mir habe er gesagt, er schulde mir etwas.

„Das ist wahrscheinlich ein neuer Trick“, sagte sie, die Frau mit dem vielen Gepäck. Sie fahre nach Wien und von da aus nach Warschau, dort wohne ihre Mutter.

„Sind Sie Polin?“, fragte ich.
Die Frau hatte eine polnische Mutter und einen österreichischen Vater, die beiden hätten sich nach ihrer Geburt getrennt. Sie fahre jeden zweiten Monat zu ihrer Mutter und bringe ihr alles, was auf der Liste steht.

„Die Liste“, sagte sie, „gibt sie mir mit, wenn ich von Warschau wegfahre. Unsinnige Sachen stehen darauf, auch solche, die sie in Warschau kaufen könnte. Zum Beispiel will sie wiederholt Herrenhemden, Größe XL, Herrenunterwäsche und Socken. Die Frage, ob sie einen Freund habe, verneint sie. Sie könnte einen haben, sagt sie, nämlich den Mann vom Erdgeschoss, der schaue sie immer so freundlich an. Sie ist verwirrt, meine Mutter, aber ich bringe ihr die Herrensachen, die mein Mann nicht mehr tragen will. Ich bringe sie in die Reinigung und verpacke sie sorgfältig, man könnte meinen, sie seien neu.“
„Und was macht sie mit den Herrensachen?“, fragte ich.
Sie staple die Sachen übereinander, ein Turm sei das inzwischen. Er stehe vor ihrem Bett und manchmal falle er um.
„Diesmal“, sagte die Frau und zeigte auf ihr großes Gepäck, „wird das meine letzte Fracht sein, ich will ihren Wahn nicht mehr unterstützen.“ „Das klingt schwer nach Einsamkeit“, sagte ich.

Da sehe ich den Mann vom vorderen Waggon, und er kommt direkt auf mich zu.
Die Frau schaut ihn an und sagt: „Mein Herr, nehmen sie ihre Sachen gleich mit, sie sind gereinigt und gewaschen, es ist ihre Größe: sieben Herrenhemden, Socken, neue Unterwäsche. Alles ist in dieser Tasche. Zugegeben, die Tasche sieht schäbig aus, aber das lässt nicht auf den Inhalt schließen.“

Da verbeugt sich der fremde Mann vor ihr, nimmt die Tasche und geht davon. Mich würdigt er keines Blickes.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.