Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Ich bin dein Papa

Vorarlberg / 11.10.2023 • 06:00 Uhr

Fünf Wege, eine Familie zu gründen (4)

„Sei ruhig, bleib ruhig, ich bin bei dir, ich bin dein Papa, hab keine Angst“, sagte Paula, fünf Jahre alt, und drückte den Kopf an Mamas Brust. Sie saßen im Zug, und ihre Zugfahrt endete abrupt. Ein Mann im hohen Alter hatte sich auf das Gleis gelegt und war überfahren worden. Der arme Lokomotivführer!

Wenige Leute saßen im Zug. Es war still. Die Mama nun neigte ihren Kopf und berührte mit ihren Haaren, die frisch gewaschen nach Zitrone dufteten, den Scheitel ihrer Tochter.

„Ich weiß, mein Liebling“, sagte sie, „du bist bei mir.“

Paula wiederum hob ihren Kopf und zitierte ihren Vater: „Kein Blatt passt zwischen uns.“

Ein kleiner Mann ging durch den Zug und versuchte, die wenigen Leute zu beruhigen, die da saßen und murmelten. „Ein Selbstmörder, das dauert garantiert Stunden.“

„Ein kleiner Mann ging durch den Zug und versuchte, die wenigen Leute zu beruhigen, die da saßen.“

Der kleine Mann, der nicht zum Personal gehörte, aber informiert schien, stellte sich vor Paula und ihre Mutter: „Ich fürchte, wir müssen aussteigen, zehn Minuten bis zum nächsten Ort, dort bringt uns ein Bus in das einzige Hotel. Morgen kann es dann weitergehen.“

„Das ist unmöglich“, sagte die Frau, „morgen habe ich einen Gerichtstermin in München wegen der Scheidung.“

Gleich wird sie weinen, dachte Paula und krallte ihre scharfen Nägelchen in den Arm der Mutter.

„Ich kann für sie anrufen, mich für sie entschuldigen, das gilt. Es handelt sich um ein gültiges Problem.“ Er hievte ihren schweren Koffer von der Gepäckablage, beinahe wäre er zusammengebrochen. „Den haben sie nicht allein da hinauf gebracht“, sagte er.

„Unsere Bleiplattensammlung“, sagte Paula, wieder ein Zitat ihres Vaters.

Der kleine Mann schob den Koffer. Es ging über Stock und Stein. Der Mond schaute von oben herab.

„Morgen, liebe Frau, wird alles gut sein, wenn Sie es wünschen, werde ich Sie begleiten.“

„Das müssen wir uns noch überlegen“, sagte Paula.

Gewiss war das Zimmer ein Provisorium, so wenig Platz im Hotel, die Reisenden kamen noch dazu. Sie lehnten mit geschlossenen Augen an der Wand. Auch der kleine Mann. Mutter und Kind lagen mit einem Kutzen zugedeckt im einzigen Bett.

„Mama, keine Tränen, ich bin dein Papa, ich bin bei dir.“

Ist es verwegen, zu glauben, dass der kleine Mann sich vornahm, sich um die beiden zu kümmern, nicht nur für diese Nacht und den morgigen Tag, nein, für immer? Es könnte eine günstige Entwicklung geben, dachte sich die Frau und Paula gab ihr wortlos recht.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.